
Visionen und Träume
Erich Wolfgang Korngolds Die tote Stadt in Gera · Von Werner Wolf
Was hat die Theater in der DDR und bislang auch in den neuen Bundesländern veranlasst, Erich Wolfgang
Korngolds in den 1920er-Jahren bejubelte und dann von den Nazis verbotene Oper Die tote Stadt beharrlich
zu negieren? Passte und passt die Auseinandersetzung mit dem Tod nicht in die vordem Optimismus und heute Unterhaltung
favorisierenden Spielpläne? Kam dazu die Befürchtung, die Belcanto und zugleich die Strahlkraft von
Wagner-Stimmen fordernden Hauptpartien nicht richtig besetzen zu können? Oder hielt man Korngolds in der
Richard-Strauss-Nachfolge üppig blühende Musik für überlebt? Wohl von allem Etwas trug dazu
bei.
Jetzt holte das Theater Altenburg-Gera diese vor Fantasie und musikalischer Kraft strotzende Oper zunächst
auf die Bühne des Hauses Gera mit großem Zuspruch und stürmischem Beifall am Premierenabend.
Nach der von oben diktierten, nicht ohne Blessuren vollzogenen Zwangsfusion der ehedem selbstständigen
Theater stellte diese Inszenierung eine entschiedene Kraftprobe dar. Der eindeutige künstlerische Erfolg
macht deutlich, dass er nur mit den nun vereinten Kräften beider Häuser erreicht werden konnte.
Das Programmheft ruft die Zusammenhänge des zwischen 1917 und 1920 in Wien entstandenen Werkes mit der
Situation der im Ersten Weltkrieg versunkenen Habsburgischen Monarchie in Erinnerung. Ob sich der damals erst
19-jährige Komponist und Mitautor des Textbuches dessen bewusst war, als er sich 1916 für das von
Siegfried Trebitsch übersetzte Drama Das Trugbild des belgischen Dichters Georges Rodenbach
begeisterte? Für ihn war es wohl vor allem ein spannungsgeladener Opernstoff, der seine Fantasie entzündete.
Der Kunstgriff der Librettisten Hans Müller und Vater Julius Korngold alias Paul Schott, die wesentlichen
Vorgänge als Vision des Hauptakteurs Paul spielen zu lassen, steigerte seine Fantasie noch.
Paul gibt sich in seinem Hause in der toten Stadt Brügge ganz der Trauer um seine verstorbene Frau Marie
hin. Nach einer Begegnung mit der ihr im Aussehen verblüffend ähnlichen, aber gänzlich anders
gearteten Tänzerin Marietta glaubt er, Marie wieder gefunden zu haben. Im Traum durchlebt er mit Marietta
all seine Sehnsüchte, Hoffnungen und Begierden. Die von Mariettas Theatertruppe gespielte Auferstehungsszene
aus Giacomo Meyerbeers Oper Robert der Teufel, Orgelklänge aus einer nahen Kathedrale, feierliche
Gesänge einer Prozession geistern durch den Traum. Weil Marietta sich wehrt, ihr Ich aufzugeben und das
Andenken der Toten entweiht, erwürgt Paul sie schließlich. Dieser beklemmende Traum führt zu
Ernüchterung und Einsicht. Nach seinem Erwachen will Paul sein Haus und die tote Stadt verlassen, versuchen,
zu neuem Leben zu finden.
Der Komponist fand zu diesem Geschehen eine denkbar vielgestaltige Musik. Insgesamt zeichnet die Oper eine
weit geschwungene Melodik und eine farbenreiche, differenzierte Harmonik aus. Für die von Konflikten durchpeitschten
visionären Szenen prägte Korngold knappe, bündige Motive aus, die er bis zu beklemmenden dissonanten
Klangballungen führt. Es ist eine großartig instrumentierte Musik, die auch in den düsteren
Szenen von jugendlicher Vitalität erfüllt ist.
Der an der Leipziger Hochschule für Musik und Theater wirkende Regisseur Matthias Oldag ließ sich
von Thomas Gruber ein einfaches Bühnenbild bauen, das die Kultgegenstände Pauls lediglich andeutet.
Die Personenführung konzentriert sich auf das Wesentliche. Fantastische Vorgänge fordern die Fantasie
der Theaterbesucher heraus, auch das von einem Tänzer dargestellte Double Pauls trägt seinen Teil
dazu bei. Mit Mathias Schulz besitzt das Theater Altenburg-Gera für die höchste gesangliche Anforderungen
stellende Partie des Paul einen Tenor, wie ihn sich manches größere Theater wünscht. Trotz einer
noch nicht ganz überwundenen Bronchitis bewältigte er am Premierenabend die Schwierigkeiten seiner
Partie erstaunlich sicher, fand zu glanzvollem Gesang und bewegender Darstellung. Ob die gesanglichen Übersteigerungen
und das exaltierte Spiel Yvonn Füssel-Harris in der exponierten Partie der Marietta dem Premierenfieber
geschuldet waren, müssen die weiteren Vorstellungen zeigen. Insgesamt beweist das Theater seine Potenzen
mit einer geschlossenen Ensembleleistung einschließlich Chor und Konzertchor des Geraer Goethe-Gymnasiums.
Die Chöre wie das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera führt Gabriel Feltz in eindrucksstarker
Weise bis an die Grenzen ihrer beachtlichen Leistungsmöglichkeiten.
Werner
Wolf
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