Georg Friedrich Händels Opernglück war wechselhaft. Nachdem sich zu „Deidamia“, seinem 44. Bühnenwerk, partout nicht ausreichend Publikum einstellen wollte, liquidierte der Meister den Opern-Zweig seines Unternehmens und sattelte um auf die Produktion von durch prächtige und gewaltige Chöre beflügelte Oratorien in der Landessprache. 1744 griff er auf Congreves Text zurück, brachte in Covent Garden mit „Semele“ ein Werk „in the manner of an oratorio“ heraus. Es geriet in Vergessenheit. Dem modernen Musiktheater hingegen kamen einige Oratorien Händels besser zupass als viele seiner Opern – und gerade „Semele“ scheint besonders theatertauglich. Marco A. Marelli tauchte die asymmetrische „Beziehungskiste“ fürs Ludwigsburger Schlosstheater in gleißend schöne Bilder. Fred Berndt zeigte Semele in Halle als Träumerin des 20. Jahrhunderts, die durch den im Mediengeschäft herrschenden Mr. Jupiter als Schauspielerin groß herauskommen will. Am brillantesten erschien die Teilmodernisierung durch Robert Carsen beim Festival in Aix 1996: die Handlung wurde ins Haus Windsor verlagert und um Elizabeth II. als böse Gottkönigin Juno gruppiert. Da blieb das Lachen im Halse stecken. Und nun Dietrich Hilsdorf am Aalto-Theater Essen: Er zeigt „Semele“ in einem aristokratischen Londoner Salon der Händelzeit. Im Hintergrund ist, frei nach Pieter Brueghel, der Turmbau zu Babel als überdimensionales Wandbild zu sehen. Schon dadurch wird deutlich, dass es mit diesem Werk um den hypertrophen Wunsch nach Unsterblichkeit und um eine krasse Form von Verblendung geht: „Myself I shall adore“, singt Semele, während sie in den Spiegel sieht. Sie wird nicht unmittelbar von den Göttern bestraft, sondern schafft sich selbst aus der Welt (die beleidigte Schwester und Ehefrau Jupiters initiiert allerdings die Intrige, die zu ihrem Verbrennungstod führt). Die Sopranistin Olga Pasichnyk durchmaß mit brillanten Koloraturen und einer angemessenen Kraftentfaltung die Höhenflüge der Gefühle und der Partie – nach einem Flammeninferno sank sie zum Häuflein Asche zusammen. Uwe Stickert, ein Tenor von Format, kam als Jupiter wie ein feister britischer Landlord des frühen 18. Jahrhunderts daher – fein, aber scharf ließ ihn Hilsdorf das Männlichkeitsgebaren vorführen (er beschwert sich tatsächlich bei Juno über die horrenden Erwartungen der Geliebten!). Jos van Veldhoven steuerte die Dynamik, die Wucht und Kontemplation der Chöre ebenso perfekt wie die ausladenden Nachtmusiken. Hilsdorf inszenierte nicht, wie angekündigt, „eine lieblose Komödie“, sondern durchaus (freilich mit leichter Hand!) die Tragödie der Semele: mit sehr genau differenzierten Haupt- und Nebensträngen der Handlung. Mit kritischen, ironischen und manchmal ausgesprochen witzigen Fußnoten. Die Ausstattung schuf eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Choristen durchweg als Individuen in einem höchst differenziert dargestellten gesellschaftlichen Geflecht wahrgenommen wurden. Ein analoges, in der dramaturgischen Funktion und in den herbeizitierten Bildelementen freilich gänzlich anders geartetes Ausstattungs-Angebot hatte Dieter Richter kurz zuvor bereits für eine „Lohengrin“-Inszenierung in Gera unterbreitet: wiederum mit einem mehrfach modifizierten Einheitsbühnenbild und mit der klaren Option, die zahlreichen Choristen als unterschiedliche Charaktere zu profilieren. Den großen und für Vereinheitlichung sorgenden Rahmen bildete eine Maschinenhalle des 19. Jahrhunderts. Der Schwanenritter John H. Murray kam in Dr. Kohls „blühende Landschaften“, mischte sich in den Streit um das Nutzungskonzept für die schöne alte Industriearchitektur zwischen der japanischen „Heuschrecke“ Tel-ra-mund (Teruhiko Komori) und der im Verfahren schwer belasteten Erbin Elsa (Franziska Rauch). Als im Detail so wandlungsfähig wie die Bühneninstallation erwiesen sich Herr Rufer (Serge Novique) und Dr. Heinrich König (Bernhard Hänsch). Letzterer erinnerte an die Mobilisierung des Kanzlers Schröders zu Auslandseinsätzen im Osten, warb dann mit Wagners immer noch heiklen Worten in Gestalt von Angela Merkel. Die größere Hälfte des Publikums feierte die akkurat inszenierte Übertragung und Thomas Wickleins Dirigat samt der gelungenen Anstrengung und sichtbar lustvollen Mitwirkung der Kollektive. Da blüht Gera auf! Weitere gelungene Beispiele dafür, wie Ausstattung und Regie in der Lage sind, gerade den Chorist/-inn/-en neue, heiterkeitsträchtige und zu differenzierter Sicht auf alte Stücke führenden Wirkungsmöglichkeiten zu eröffnen, waren Igor Bauersimas Stuttgarter Rossini-Inszenierung „Le Comte Ory“ und die Züricher „Clari“ mit Cecilia Bartoli. Das Regieteam Moshe Leiser/Patrice Caurier präsentierte die recht triviale Geschichte der frühen Halévy-Oper im Internet-Zeitalter und angereichert mit Elementen eines „Fotoromans“ von Christian Fenouillat. Die Mitglieder des Chors avancierten in hohem Maß zu Protagonisten der turbulenten Buffo-Episoden. Frieder Reininghaus |
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