Wo der Wille zum Wagnis und der Mut zum Scheitern gesucht sind, haben sich Regisseur Christof Nel und sein Bühnenbildner Roland Aeschlimann in ihrer Düsseldorfer Neuinszenierung dafür entschieden, die theologischen Klippen des Stückes bequem zu umschiffen, indem sie Schönbergs religiöses Bekenntniswerk zu einem Volksdrama vereinfacht und verweltlicht haben. Die Ereignisse um den Auszug ins gelobte Land zerlaufen in vagen und konturlosen Traumbildern. In der Fremdartigkeit und Unkenntlichkeit der Traumvorgänge mit ihren geheimnisvollen Wesensspaltungen und Metamorphosen erscheint zwar auf abstrakte Weise der Rätselcharakter des Werkes. Doch was Nel in dieser an sich klug gewählten Form erzählt, ist nur die weltimmanente Tragödie der menschlichen Kultur als ziellose ewige Wiederkehr von Revolte, Anarchie und Aufbruch. Aeschlimanns klaustrophobe Bühnenarchitektur mit aufwändiger Wendeltreppe ins Nirgendwo suggeriert eine resignative Atmosphäre zeitloser Verlassenheit und Abgeschiedenheit, auf die der Strahl des Gottesgedankens, wenn überhaupt, nur als matte Illusion trifft. Alles geschieht wie in Trance, selbst der Tanz um das Goldene Kalb ist von jeder Erinnerung an Obsessives, Wildes und Ekstatisches gereinigt. Mitleidsvoll liebkost die Menge einige der Kultopfer und auch Aron ehrt sie mit zärtlicher Trauer. Den Tod des als sympathischen Philanthropen porträtierten Hohepriesters zieht Nel aus dem von Schönberg nicht mehr komponierten dritten Aufzug in die letzte Szene des zweiaktigen Opernfragments vor, so dass Moses’ berühmter Verzweiflungsausbruch „O Wort, du Wort, das mir fehlt!“ nun auf den toten Bruder zielt, den ihm die Stimme aus dem Dornbusch einst als Mittler des abstrakten Gottesgedankens zugewiesen hatte. Diese Lösung des Schlusses ist charakteristisch für Nels humanistische Reduktion der theologischen Thematik. Wer aber ist Moses? Wer hat ihn geschickt? Darüber übt sich Nel in Diskretion. Einen starken Gegensatz zum schwachen Puls der Inszenierung bildet die lebendig fließende musikalische Ausdeutung unter Wen-Pin Chien am Pult der Düsseldorfer Symphoniker. Wer noch immer behaupten sollte, dass die Musik der Zwölftonoper „Moses und Aron“ nicht wirklich berührt, wird durch Chiens Dirigat Lügen gestraft. Da ist kein einziger Ton, der keinen Ausdruck besitzt. Gewissenhaft fächert Chien die monumentale Riesenpartitur auf, koordiniert präzise die Gesangs-, Sprech- und Instrumentalstimmen, nimmt Rücksicht auf die Sänger, ohne das Orchester zu schwächen. Das Ergebnis ist eine Klangevidenz von hoher Prägnanz und Tonschönheit. Mit der Chorpartie dokumentiert Schönberg eindrucksvoll, wie weit die Aussagekraft eines Opernchores noch über die Möglichkeiten einer großen Solopartie hinaus gesteigert werden kann. Auf dem Fundament einer sicheren Intonationsreinheit hat Chordirektor Gerhard Michalski den Chor und Extra-Chor der Deutschen Oper am Rhein zu disziplinierter rhythmischer Schlagkraft und einer fein nuancierten Dynamik angeleitet. Noch die vertracktesten polyphonen Zaubereien kulminieren in einem leuchtenden Espressivo, das bei aller Ausdrucksmacht, zumal im Schönberg’schen Sprachdeklamato, sich nicht gegenüber dem musikalischen Kontext verselbständigt. Die Partie des Moses hat Schönberg fast durchgängig als Sprechstimme fixiert. Bravourös meistert Michael Ebbecke den diffizilen Balanceakt, die vom Komponisten bezeichneten Tonhöhen in eine Sprechmelodie umzuwandeln, ohne dabei unmerklich in sonoren Wohlklang überzugleiten. Letzterer bleibt die vokale Signatur Arons, die Wolfgang Schmidt mit seinem schlanken, geschmeidigen Tenor nachzeichnet. So kann man der dezenten Inszenierung wenigstens zugute halten, dass sie die Kontemplation über den Formenreichtum und die Schönheit der Komposition nicht durch ein hybrides Regiespektakel erschwert hat. Der musikalische Gedanke blieb an diesem Abend gleichsam rein und bei sich. Aus dem Opernfragment wurde beinahe wieder ein Oratorium. Christian Tepe
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