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 Peter Konwitschny: Es gibt zwei grundsätzliche Auffassungen von Theater überhaupt. Ist es Wirklichkeit? Bilden wir Wirklichkeit nach? Oder ist es artifiziell, etwas, das sich sehr deutlich von den Formen des Lebens absetzen muss? Erstere geht letztlich auf Walter Felsenstein zurück. Realistisches Musiktheater muss eben nicht künstlich sein, es muss Wirklichkeit abbilden. Oder es ist so abstrakt wie bei Robert Wilson, jetzt mal extrem, wo sozusagen die Bewegungen nichts mehr mit dem Stück und mit der Musik zu tun haben. Es wird geradezu mathematisch. Er erfindet und bestimmt einen Algorithmus, bei welchem Takt welche Bewegung kommt. Es hat mit dem Werk nur dann, wenn man will, etwas zu tun, wenn man sich selbst zusammensetzt, was vom Theater, von der Bühne nicht zusammengedacht ist. Ich bediene mich ja eklektizistisch von allem, was vor mir erschaffen wurde, sowohl bei Felsenstein mit seiner detailgetreuen Psychologie, also der genauen Umsetzung von Musik in Bewegung. Ich bediene mich aber auch bei Brecht, der durch Ruth Berghaus auch auf mich gekommen ist.  Grundsätzlich möchte ich sagen, dass ich den Chor für
              eine wesentliche Energie auf der Opernbühne halte. Ich finde
              es sehr bedauerlich, wenn das von meinen Kollegen verschenkt wird.
              Der Chor ist für die Oper schlechthin die Erweiterung der
              Dimension.  Oper ist störanfälligO&T: Szene oder Musik? Wie weit dürfen die Anforderungen eines Regisseurs in einer Inszenierung an den Opernchor gehen und folgt daraus eine unterschiedliche Wertigkeit von Szene oder Musik? Konwitschny: Wenn wir ein Bühnenwerk spielen, betreten wir, im Gegensatz zu einem Oratorium oder einem Konzert, eine Bühne. Und in dem Moment haben wir uns auch den Gesetzen der Bühne zu unterwerfen. Die sind archaisch, ein paar tausend Jahre alt. Wenn ich mich erhöhe – und manchmal brauche ich dafür nur eine kleine Holzkiste – als Clown oder als sonst was, muss ich etwas Sinnvolles auszudrücken haben. Nur etwas Schönes, wie zum Beispiel nur schöne Töne singen, genügt nicht. Ich finde, das ist nicht einmal für ein Konzert geeignet. Das ist eine ethische Sache, eine religiöse und betrifft uns in unserer gesellschaftlichen Seinsweise ganz zentral. Vergleichbar wäre es, wenn beim Gottesdienst der Pfarrer gar keine Idee hat, wie er den Leuten mitteilen soll, warum der Glaube eigentlich gut ist. 
 Wenn ein Mensch oder ein Chor auf die Bühne tritt und dort nichts von Bedeutung für die Gesellschaft zu erzählen hat, dann ist das asozial. Die Gesetze der Bühne werden missachtet und das Geld zum Fenster hinausgeschmissen. Im Musiktheater ist das noch spezifischer als im Sprechtheater. Im Musiktheater wird das Ganze, wird die Sprache mit Musik, mit geordneten Tönen, die sich in Jahrhunderten gebildet haben, verbunden. Da muss man präzise singen können.  Durch die Musik ist die Oper viel störanfälliger als
              das Schauspiel. Der Schauspielregisseur muss viel musikalischer
              sein als der Opernregisseur, weil dieser faktisch selbst komponiert.
              Als Opernregisseur muss ich alle Erfindungen, alle Ideen, die ich überhaupt
              habe, einem durch die Musik vorgegebenen Ablauf zuordnen. Wenn
              ich das berücksichtige, gibt es eine Dialektik von Szene und
              Musik. Berücksichtige ich das nicht, dann gibt es nur eine
              Mechanik. Dann gibt es nur entweder ein: „Die Musik gefällt
              mir“ oder „Die Szene gefällt mir“. Die Szene
              funktioniert gerade mal so, sie stört die Musik nicht, aber
              sie hat keinen fundamentalen Zusammenhang mit der Musik.  Eine Sache des Sich-TrauensO&T: „Wenn Du es zum Solisten nicht schaffst, dann geh‘ doch in einen Opernchor.“ Wie sehen Sie die momentane Ausbildungssituation für den Beruf Opernchorsänger? Sind die Absolventen nicht nur Sänger, sondern auch Sängerdarsteller? Konwitschny: Ich unterrichte in Hamburg, Berlin, Wien, München, Graz und habe einen gewissen Überblick. Ich denke, dass die Ausbildung sowohl von Sängern als auch von Regisseuren teilweise sehr im Argen liegt, weil die Lehrkräfte nicht gut genug sind. Viele, die in der Praxis am Theater nicht richtig zu Rande kommen, gehen an die Schulen. Wenn jemand richtig Theater machen kann, dann macht er Theater und ist nicht hauptberuflich an der Schule. Wenn ich ein oder zwei Wochen mit Gesangsstudenten arbeite, alle möglichen Arien und Duette, macht es mir unheimlichen Spaß, wenn Grenzüberschreitungen stattfinden. Das ist, als ob einer neu geboren wird, weil er plötzlich merkt, was er alles kann. 
 Für mich ist es prekär, wenn ich merke, dass Leute dabei sind – nicht nur beim Chor, sondern auch bei den Solisten – die szenisch keine Ahnung haben. Keine Ahnung davon, was es bedeutet, in eine andere Figur zu schlüpfen. Jetzt bin ich zwar noch ich, aber ich bin auch nicht mehr ich. Dieses Theaterspielen ist eine fantastische, ja auch eine archaische Sache. Als ich studierte, hatten wir bei Erhard Fischer dramatischen Unterricht. Ich weiß noch: Ich war Max im Freischütz – wir erarbeiteten die Dialoge und ich hatte so ein ungutes Gefühl. Wie soll ich das denn nun sagen? Plötzlich brüllte er mich richtig an, und ich erlebte eine Grenzüberschreitung. Ich bekam solche Angst, dass ich sozusagen den Boden unter mir verlor. Aber die Angst mich zu blamieren war plötzlich weg. Er bewegte mich, Sachen zu tun, die ich vorher gar nicht konnte. Das war die Initiation, eine Sternstunde für mich. Ohne diese Stunde weiß ich gar nicht, ob nicht mein Weg anders verlaufen wäre. Wenn ich nun merke, dass ein Solist oder Chorsänger das gar nicht kann, was er darstellen soll, sage ich zum Beispiel: „Ihr müsst einen Schreck kriegen.“ Wenn ich einen Schreck bekomme, zuckt mein Körper zurück, weg vom Herd des Grauens. Oder wenn ich mich erschrecke, können sich die Augen nicht davon lösen. Der Körper geht zurück, aber der Blick bleibt dort. Manche sind verkrampft, andere haben keine Spannung. Solche Sänger zu führen ist doppelt so schwierig. Viele können sich in ihre Rolle, in die Szene hineinversetzen. Aber andere brauchen Hilfe. Das ist teilweise wie die hohe Schule der Psychotherapie. Therapie sage ich ganz bewusst, denn es ist nicht nur eine Sache des Könnens, sondern auch des Wagens, Sich-Trauens. Viele Chorsänger tragen eine gewisse Traurigkeit mit sich herum. Sie wollten eigentlich immer Solisten werden, es ist aus irgendeinem Grund anders gekommen. Man darf nicht vom Tisch wischen, dass es da ein Potenzial an Resignation gibt.  Für mich, der diese Kollegen anleitet, ist das nicht nur eine
              fachliche, sondern auch eine menschliche Frage. Wie wird der Mensch
              sich dort eingliedern können? Wenn zuviel Frust da ist, kann
              er sich nicht anschließen. Ich denke, das ist ganz entscheidend,
              damit eine kollektive Lust an unserer Arbeit entsteht. Wir sind
              ja wahnsinnig privilegiert und wären blöd, uns diese
              Freude miteinander zu verderben.  | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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