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Berichte

Die Sphäre der Mächtigen

„Boris Godunow“ an der Bayerischen Staatsoper · Von Wolf-Dieter Peter

Weh, o weh, Russland! Wein, wein, russisch Volk, du hungernd Volk!“, ist eine der wenigen Wahrheiten im Werk – und diese Klage singt ausgerechnet der „Gottesnarr“, ein von allen gehänselter, frommer Wirrkopf vom äußersten Rand der Gesellschaft. Leider stimmt die Klage auch vierhundert Jahre nach den realen blutigen Thronwirren um Zar Boris nicht nur in Bezug auf Russland. In vielen Oligarchen-Staaten Zentralasiens und weltweit leidet eine Mehrheit von Menschen unter Korruption, Machtgier und mörderischer Gewalt.

Goran Juric als Nikititsch, Mitglieder des Chors der Bayerischen Staatsoper und der Statisterie. Foto: Wilfried Hösl

Goran Juric als Nikititsch, Mitglieder des Chors der Bayerischen Staatsoper und der Statisterie. Foto: Wilfried Hösl

Es ist also kein Auswuchs des fälschlich gescholtenen „Regie-Theaters“, wenn Calixto Bieito zunächst das Premierenpublikum von der Sphäre der Mächtigen mit dem kalten Eisernen Vorhang trennt. Als der im absoluten Dunkel hochfährt, bildet eine paramilitärische Miliz am Bühnenrand eine bedrohliche Barriere. Hinten ist im rauchig dunklen Raum ein metallisch dunkler Kubus von Bühnenbildnerin Rebecca Ringst erkennbar: das Machtzentrum, das später zu verschiedenen altgolden ausgekleideten Palast-Räumen aufklappt. Dazwischen darf sich, bewacht, bedroht und immer wieder mit Schlägen oder heutigen Sperrgittern eingegrenzt, das heutige Prekariat aufhalten – bis hin zu den armen, realistisch rüden Straßenkindern (Kinderchor: Stellario Fagone). Mal kuschen alle unter den Knüppeln, mal jubeln sie pflichtgemäß – was der Staatsopernchor in Sören Eckhoffs Einstudierung auch klanglich differenziert hörbar macht. So wird Boris‘ Thronannahme zu einem Klanghöhepunkt, denn der zunächst am Boden flehende Chor reckt erst vereinzelt Arme, dann erheben sich die Ersten parallel zu den eingeforderten Jubelrufen und den loswummernden Kirchenglocken, ehe ihr machtvolles „Slava! Hoch!“ tost – eine gespenstische „Jubelszene“ im rauchgeschwängerten Halbdunkel. Als das Volk die Porträts heutiger Problempolitiker von Berlusconi bis Putin plakatartig hochhält, greift Regisseur Bieito zwar mit den Porträts von Hollande oder Zapatero daneben, während bluttriefende Potentaten fehlen, zwar frönt er erneut seiner „Tarantinoschen“ Gewalt-Fantasie, indem er über die Handlung hinaus Grenzwachen, den Gottesnarren und Boris’ beide Kinder ermorden lässt – doch insgesamt gelingt Bieito und seinem Bühnenteam eine bedrückende Vergegenwärtigung, wie „das Volk“ bis heute durch Drogen, kleine Wohltaten, Gewalt, Terror und daraus resultierende existentielle Lebensangst dumpf gehalten wird. Wenn schon Hinzuerfindungen, so wäre – gerade im Blick auf Bieitos Biografie – das viel zu wenig kritisierte Bündnis von „Thron und Altar“ szenisch zusätzlich anzudeuten gewesen: Alle führen ja dauernd „Gott“ im Munde, Klerus und Kirche spielen mit, so verlogen wie machtpolitisch überlegt.

Die auch klanglich düstere, dichte Urfassung von Mussorgskys Musikdrama hat sich Kent Nagano für seine letzte Münchner Premiere gewählt. An seiner Interpretation können sich die Geister scheiden: nichts von kühler Analytik und eisiger Wucht, vielmehr oft weicher, fast spätromantischer Klang. Das kann man ablehnen und sich gerade zu dieser Inszenierung anders wünschen – oder als spannungserweiternden Kontrast annehmen, denn Machthaber und -missbraucher tönen gerne verlogen seimig-ölig. Das gelang am besten dem intriganten Drahtzieher Schuiskij von Gerhard Siegel und dem aalglatten Propagandisten Schtschelkalow von Markus Eiche. Hinter dem expressiven Gottesnarren von Kevin Conners, dem urigen Säufer-Mönch Warlaam von Bass Vladimir Matorin und dem gut gleisnerisch falschen Thronprätendenten Dimitrij von Tenor Sergey Skorokhodov blieb der Chronisten-Mönch Pimen von Anatoli Kotscherga zurück. Der junge ukrainische Bass Alexander Tsymbalyuk beeindruckte als Boris vokal und mit der überragenden Bühnenerscheinung eines heutigen Oligarchen. Sein von Bieitos oft wenig ausgefeilter Personenregie eher nur psychisch interpretierter Zusammenbruch besaß aber zu wenig dramatisch fesselnde „Fallhöhe“. So blieb der Schlussapplaus teils verhalten, teils beeindruckt, ohne jedes Buh: Denn leider ist die Welt so.

Wolf-Dieter Peter

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