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Grosser Wurf in Dresden
»Mathis der Maler« an der Staatsoper Dresden

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Grosser Wurf in Dresden

»Mathis der Maler« an der Staatsoper Dresden

Zwei Flugzeuge nähern sich einem Kubus aus Hochhäusern. Eines der beiden scheint sich schon ängstlich zur Seite zu neigen – Robert Longos gemalte Vision von 9/11. Dieses Gemälde dominiert die Bühne im ersten Bild der Oper „Mathis der Maler“ in Jochen Biganzolis Dresdner Inszenierung. Weitere bühnenbildbestimmende Gemälde werden folgen: Roy Lichtensteins Pop-Art-Luftkampf, ein Selbstbildnis als Soldat von Ernst-Ludwig Kirchner, Seerosen von Claude Monet und der Isenheimer Altar von Matthias Grünewald. Damit schaffen Biganzoli und Bühnenbildner Andreas Wilkens Assoziationsräume und Zeitbrücken zu Paul Hindemiths Opus summum um den geheimnisvollen Maler des Isenheimer Altars.

Jochen Biganzoli hat in den sieben Bildern des Werkes aufgefächert, was man alles darin lesen und hören kann: das politische Drama um Reformation und Bauernkrieg, das Ringen um die Bestimmung des Künstlers zwischen der Autonomie seines Schaffens und dem Eingreifen in die Kämpfe und Nöte seiner Mitmenschen, moralische Konflikte um Mäzene, Auftraggeber und den inneren künstlerischen Auftrag, die Suche nach Integrität und Schöpferkraft in Zeiten der Gewalt, Fragen um Liebe und deren politische Instrumentalisierung; in allem reflektiert Hindemith auch sein eigenes politisches und Künstlerschicksal in Nazi-Deutschland.

Markus Marquardt (Mathis), Herbert Lippert (Hans Schwalb). Foto: Jochen Quast

Markus Marquardt (Mathis), Herbert Lippert (Hans Schwalb). Foto: Jochen Quast

Mit wenigen Zeichen konzentriert Biganzoli jedes Bild auf eines dieser Problemfelder. Die Gewalt gegen die Bauern hinterlässt blutige Spuren auf einem Gemälde, ein anderes geht in Flammen auf, während lutherische Schriften zwecks Bücherverbrennung eingesammelt werden, für die Greuel der Revolution steht ein gusseiserner Pfahl mit einem „M“ darauf, Metro, Paris. Über eine politische Hochzeit wird in einem Behördenflur verhandelt. Das Schlussbild ist ein verlassener Orchesterprobenraum, vielleicht hat man gerade die Sinfonie „Mathis der Maler“ geprobt, jenes Werk, das Goebbels‘ Verdikt des Komponisten und schließlich Hindemiths Ausreise aus Deutschland zur Folge hatte.

Biganzoli rückt die großräumige Themenvielfalt des Werkes in eine abstrakte Gegenwart. Es sind die Szenen zwischen wenigen Personen, die das text- und symbolreiche Werk psychologisch aufschließen. Greifbar wird Mathis, wenn er seinen Mäzen mit dem Entschluss, zu den kämpfenden Bauern zu gehen, brüskiert; der eitle Kardinal Albrecht von Brandenburg gewinnt überraschendes Profil, wenn er mit der reichen Bürgerstochter Ursula seinen Übertritt zu den Lutheranern verhandelt und dabei Luxus und Hochmut von sich tut; die Bauerntochter Regina findet in Mathis‘ Vision von musizierenden Engeln Trost in der Trauer um ihren Vater.

Der mit gewaltigen Aufgaben betraute Chor hat eine Mittlerstellung zwischen grandioser oratorischer Klangmacht und dem Mitspielen als Bauern oder Bürger der Stadt Mainz inne. Im Wortsinn aus dem Rahmen fallen sie als schrillbunte Kunst-Schnäppchenjäger. Biganzoli individualisiert die einzelnen Sänger, lässt sie aber auch als äußerst dynamisches Kraftzentrum agieren. Musikalisch war der Chor von Jörg Hinnerk Andresen ausgezeichnet vorbereitet.

Simone Young leitete die Dresdner Staatskapelle. Alles, was die herbe, von altmeisterlichen Klangmustern bestimmte Orchestermusik an klanglicher Individualität und melodischen Partikeln hergab, brachten Dirigentin und Orchester zum Vorschein. Auch hier musste man zwischen pastoser harmonischer Fülle auf die feineren Details achten, auf die Zartheit des Vorspiels beispielsweise oder auf die Kunst, auch die lautesten orchestralen Eruptionen noch immer klingen zu lassen.

Unmöglich, alle Solisten zu würdigen, es war faszinierend, was sie leisteten. Keiner verlor bei der Menge an Text und der Wucht des Orchesterklangs die Kontrolle über den Wohllaut der Stimme. Besonders überzeugten Annemarie Kremer, die als Ursula eine enorme emotionale Spannweite zu bewältigen hatte zwischen zarter Gefühlsinnigkeit und tiefer Schicksalsverzweiflung, John Daszak als Kardinal in seiner Wandlung vom herablassenden Kirchenfürsten zum wahren Freund Ursulas und Mathis‘. Schließlich Markus Marquardt in der Titelpartie: ein intensives, stimmlich extrem anspruchsvolles Charakterbild. In der Partie herrscht fast immer Hochspannung, die ihren exzellent gesungenen Höhepunkt in der visionären Vorwegnahme des Isenheimer Altarbildes findet. Insgesamt ein in jeder Hinsicht großer Wurf.

Irene Constantin

Siehe auch: Musik ermöglichen
Irene Constantin im Gespräch mit Jochen Biganzoli

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