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Berichte

Regelrechte Zauberei

»Petruschka« und »L‘Enfant et les Sortilèges« an der Komischen Oper Berlin

Sind wir im Kino? Im Zirkus? In der Oper? Zu quirligen Strawinsky-Klängen flimmert es über die Leinwand, kein Sänger, kein Tänzer ist auf der Bühne zu sehen. Stattdessen riesengroße, pastellfarbene Tauben in wildem Flug, punktgenau zum Abwärts-Glissando der Musik nach unten stoßend. Sie flattern über einen Jahrmarkt; Menschen mit weit aufgerissenen Augen und Mündern, schiefe Zähne entblößend, bestaunen Riesenrad und Kettenkarussell, kartenspielende Hunde, Riesendamen, Hampelmänner. Das alles in der Formensprache des russischen Futurismus und der Farbigkeit des frühen Chagall, Ocker und Tomatenrot.

In Koproduktion mit der Komischen Oper Berlin, die Igor Strawinskys Ballett „Petruschka“ mit Maurice Ravels Kammeroper „L‘Enfant et les Sortilèges“ zusammenspannt, treibt die britische Theatergruppe „1927“ regelrechte Zauberei. Paul Baritt besorgt die Computeranimation zahlloser gezeichneter, bemalter, mit Stoff beklebter Figuren und Gegenständen, welche die Regie von Suzanne Andrade und Esme Appleton mit den menschlichen Akteuren vereint. Ebenso auf das Trickfilmgeschehen abgestimmt sind Bühne und Kostüme von Pia Leong und Kathrin Kath, im Zeitkolorit der 1920er-Jahre.

Tiago Alexandre Neto Fonseca als Petruschka. Foto: Iko Freese/drama-berlin.de

Tiago Alexandre Neto Fonseca als Petruschka. Foto: Iko Freese/drama-berlin.de

Hausherr Barrie Kosky stellt sein ganzes Equipment, Sänger, Chöre und sein von Markus Poschner präzise-inspiriert geleitetes Orchester zur Verfügung. Das freie Off-Theater und das etablierte Opernschlachtschiff gehen damit die glücklichste Verbindung ein, ohne dass deswegen ein monumentales „Gesamtkunstwerk“ entstünde. Zwar greifen die verschiedenen Ebenen von Bild, Bewegung und Klang nahtlos ineinander, doch bewahren sie ihre Eigenständigkeit, befeuern sich gegenseitig in quasi „demokratischem“ Dialog.

„Freiheit“ ist das zentrale Thema, wie der Taubenflug bereits anzeigt. Nach ihr sehnen sich in „Petruschka“ drei Marionetten in den Fängen eines geldgierigen, sadistischen Puppenspielers. Der traurige Clown Petruschka, die Ballerina und der Muskelprotz verwandeln sich aus Papierfiguren in Akrobaten (Tiago Alexandre Fonseca, Pauliina Räsänen, Slava Volkov). Sie erzählen ihre Dreiecksgeschichte mit geschmeidigen, fast tänzerischen Bewegungen.

Dass die Marionetten lebendiger sind als das Jahrmarktsvolk draußen, vertieft das Spiel zwischen Traum und Realität. Sie versuchen einer Gefängniszelle mit steilen Wänden zu entkommen – das rettende Seil wird immer rechtzeitig von einer riesigen schwarzen Schere durchschnitten. Dann schafft Petruschka es doch und ist in der Freiheit verloren, zwischen den Gestängen der Fahrgeschäfte irrt er herum wie Charlie Chaplin in den Maschinenzahnrädern des Films „Moderne Zeiten“. Wahre Freiheit gibt es nur im Tod: Petruschkas gemalte Seele schlüpft aus dem Körper und dreht dem bösen Puppenspieler eine Nase.

Eine überquellende Bildphantasie erhellt auch die surreale Dimension von „L‘Enfant et les Sortilèges“ (Das Kind und der Zauberspuk). In Ravels „Opera dansée“ kämpft ein Kind gegen die Regeln der Erwachsenen, doch auch hier ist unbegrenzte Freiheit verhängnisvoll: Teekanne, Sessel, Bäume und Insekten wehren sich gegen seine Zerstörungslust. Schreckensszenarien entstehen, etwa wenn das Kind (Nadja Mchantaf) in der überdimensionalen Teekanne fast ertrinkt oder von grell miauenden Riesenkatzen (Maria Fiselier/Denis Milo) bedroht wird. Nun singen auch die Papierfiguren; etwa die Sonne aus einem Strahlenkranz heraus, durch den die Sopranistin Talya Lieberman ihren Kopf steckt und den Raum mit grandiosen Koloraturen überflutet. Die strenge Mutter, der durchgeknallte Rechenautomat, vom Kinderchor der Komischen Oper und vom Vocalconsort Berlin zartstimmig verkörperte Libellen und Fledermäuse – sie alle glänzen durch natürliche Spiellust und geben der etwas gestelzten Sprache der Librettistin Colette poetische Ironie.

Vielleicht hat das nicht ganz den sozialen Charme und die klare Botschaft wie „Petruschka“; ein glaubhaftes Szenario, getragen von einer hochdifferenzierten, fast unbekannten Musik, entsteht auch hier.

Isabel Herzfeld

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