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Hintergrund

Kulturhauptstadt Chemnitz 2025

Überlegungen von Generalintendant Christoph Dittrich
und Ballettdirektorin Sabrina Sadowska

Als die Jury-Entscheidung am 28. Oktober 2020 für Chemnitz als europäische Kulturhauptstadt fiel, gab es nicht nur freudvolle Postillen, sondern auch als Skepsis getarnten Neid. Was? Ausgerechnet die „Stadt der Moderne“, in der sich 2018 bei einer Demonstration jene Gewalttaten ereigneten, die das Image der drei mitteldeutschen Bundesländer in ein noch tieferes Loch rissen als Pegida. Die sächsische Landeshauptstadt Dresden und Gera in Thüringen waren nach der ersten Runde des Bewerbungsverfahrens ausgeschieden, Leipzig hatte sich nicht beteiligt. Aus den Gremien der Stadt, aus dem weiten Umland und von der nahen Grenze zu Tschechien im Süden rief man sofort zu den Pflichten: „Die Arbeit beginnt jetzt erst richtig.“

Mefistofele“ in Chemnitz mit großem Choreinsatz. Foto: Nasser Hashemi.

Mefistofele“ in Chemnitz mit großem Choreinsatz. Foto: Nasser Hashemi.

Grund genug, um sich schon jetzt einmal umzuschauen. Das Opernhaus im Kulturquartier fällt sicher nicht unter das Motto „C the unseen“, mit dem die drittgrößte Stadt des Freistaats Sachsen Chemnitz 2025 den Blick auf Ungesehenes richten wird. Generalintendant Christoph Dittrich hatte in einem Gespräch mit der seit 2007 amtierenden Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig bereits 2015 die Zündschnur zur Bewerbungsrakete gelegt. Ballettdirektorin Sabrina Sadowska saß im Programmrat. Derzeit wird das unter der Leitung von Kulturamtsleiter Ferenc Csák stehende Kulturhauptstadt-Büro eingerichtet. Wichtige Entscheidungen fallen bis 2023, bei denen die in der Stadtratssitzung vom 30. Januar 2019 als Kulturstrategie bis 2030 verabschiedeten Themenfelder einfließen müssen: „Moderne(s) in Chemnitz“, „Gebt Raum! Voraussetzungen schaffen“, „Fördermodelle entwickeln“, „IndustrieKultur“, „Kultur- und Kreativwirtschaft als Impulsgeberin“, „Kulturelle Bildung“, schließlich „Kulturkommunikation, Kulturmarketing und Internationale Kooperation“. Partizipieren soll vor allem die „namenlose Mitte“, zur Bewerbung mit Einzelprojekten aufgerufen sind alle. Die laufenden Verträge Dittrichs und Sadowskas reichen bis 2023. Der gebürtige Dresdner und die Schweizerin aus Basel fühlen sich in der Stadt wohl, beide könnten sich gut vorstellen zu bleiben. Sie haben schon jetzt die Aufgabe, über ein eventuelles Ende ihrer Amtszeit hinaus weiterzudenken und strukturelle Weichen zu stellen. Die umfangreiche Sanierung des Schauspielhauses ist laut Plan bis 2023 abgeschlossen. „Eine technisch gut ausgerüstete Spielstätte mit 200 Zuschauerplätzen können alle Sparten gut brauchen“, sagt Sadowska, die mit Tanz urbane Räume erschließt, so, wie Dittrich den Theaterplatz für sommerliche Musical-Aufführungen etablierte. Als Bekenntnis für Frieden und Toleranz organisierten das Musiktheater und die Robert-Schumann-Philharmonie nach den gewalttätigen Ausschreitungen und der Konzertaktion „Wir sind mehr“ gegen Rechtsextremismus im Herbst 2018 spontan eine Produktion von Udo Zimmermanns Kammeroper „Weiße Rose“ in der Städtischen Musikschule. Die Opernballettschule versteht sich als Mehrgenerationen- und Integrationsforum, das auch Schüler mit Migrationshintergrund besuchen. Für die Theater sind das keine schlechten Voraussetzungen, um mit anderen Kultureinrichtungen und den Freien Szenen die nüchternen Worte der Bewerbungsterminologie in konkrete Projekte und Kooperationen zu verwandeln. Dittrich und Sadowska erörterten in ausgiebigen Telefonaten ihre Vorüberlegungen zu diesem frühen Zeitpunkt. Euphorie beflügelt.

Ebenfalls Choreinsatz in der „Götterdämmerung“. Foto: Kirsten Nijhof

Ebenfalls Choreinsatz in der „Götterdämmerung“. Foto: Kirsten Nijhof

Die noch unter der DDR-Regierung begonnene und in der Nachwendezeit beendete Erneuerung des Opernhauses ist hinter der historistischen Fassade nur ein Zeichen für die Bedeutung der vor dem Ersten Weltkrieg durch eigene Produktivkraft reichsten Stadt Deutschlands. Doch die Kulturfunktionäre der DDR bagatellisierten und ignorierten diese kulturelle Blütezeit als dekadente Verfallserscheinung. Dieser urbane Schatz neben den Theater- und Museumsbauten, vielen Industrieanlagen und der Villa Esche soll endlich ins breite Bewusstsein gelangen, wobei das Sächsische Jahr der Industriekultur 2020 wegen Corona nicht den erwarteten großen öffentlichen Widerhall finden konnte.

„Momentan prüfe ich die Idee, mit den ‚Tauber-Städten‘ Linz, Berlin und London zu interagieren“, sagt Dittrich. Der gleichnamige Vater des in Linz geborenen und nach seiner Emigration aus Nazi-Deutschland 1946 in London verstorbenen Tenors war von 1912 bis 1930 Intendant des Stadttheaters und zunehmend antisemitischen Angriffen ausgesetzt. In Chemnitz sang Lehárs Lieblingskünstler in einem für das erste Drittel des 20. Jahrhunderts bemerkenswert fortschrittlichen Repertoire. Diese und alle anderen Überlegungen müssen natürlich geschärft und im kommunalen Austausch kanalisiert werden. „Bei der vorbereitenden Spielplan-Ausrichtung geht es nicht darum, das große Musiktheater bürgerlicher Prägung noch mehr auszubauen. Ich schaue mich zum Beispiel nach bedeutenden Nationalopern europäischer Völker um, die hier noch unbekannt sind. Zum Teatro de la Zarzuela Madrid haben wir über unseren GMD Guillermo García Calvo einen direkten Draht. Wichtig für die konzeptionelle Aufstellung ist generell, dass wir bei Werken mit fragwürdigen Deutungsangeboten eine kritische Interpretationshaltung einnehmen. Nicht nur bei Wagner.“ Dittrich gibt zu, dass tschechisches Musiktheater auf den sächsischen Spielplänen ausbaufähig ist. „Sachsen Böhmen 7000. Liebe, Leid und Luftschlösser“ hieß eine Sonderausstellung im Sächsischen Museum für Archäologie während des tschechischen Jahres 2018/2019 und erschloss Geschichte in allgemein verständlichen bilateralen Querverbindungen.

Making Of zu „Episode 31“. Foto: Nasser Hashemi

Making Of zu „Episode 31“. Foto: Nasser Hashemi

Selbst wenn der Fokus für Chemnitz auf der Stadtfläche liegt, spielt das Umland bei den konzeptionellen Überlegungen mit. Sadowska schwärmt von intensiven Kontakten sowohl zur internationalen Tanzszene wie auch zu den Ausbildungsstätten in Dresden und Prag. „Der tschechische Kulturraum beginnt im Erzgebirge und liegt vor unserer Haustür.“ Dittrich kann auch dank des hohen Besucheranteils aus den Regionen Erzgebirge und Mittelsachsen in allen Sparten einen anspruchsvollen Spielplan präsentieren: „Mauern zwischen Theatereinzugsbereichen haben wir hier nicht. Es gibt viele Menschen, die abwechselnd die von hier maximal 40 Kilometer entfernten Theater in Döbeln, Freiberg, Annaberg, Zwickau und die Chemnitzer Theater besuchen.“

Digitalisierung, Stärkung der demokratischen Zivilgesellschaft, die Stärkung von Stadt und Region sowie lokale und internationale Partnerschaften für Innovation, Professionalisierung und Ressourcenmanagement sind vier Aktionssäulen auf dem Weg zur europäischen Kulturhauptstadt. Digitalisierung als Wissensspeicher ja, als performatives Substitut für Theater, Bildende Kunst und Tanz im öffentlichen Raum nein. Noch beschädigen die Lockdown-Maßnahmen den langsam einsetzenden und bereits spürbaren Sog Richtung 2025 nicht.

„Love Me Or Leave Me” – Ballettabend von Sabrina Sadowska (Premiere am 09.10.2020). Foto: Nasser Hashemi

„Love Me Or Leave Me” – Ballettabend von Sabrina Sadowska (Premiere am 09.10.2020). Foto: Nasser Hashemi

Generell existieren im Theater und vor allem beim Tanz projektive Säulen, die bis 2025 und 2030 nur verdichtet werden müssten. „Bei all dem Unheil, das 2018 hier das überregionale Ansehen von Chemnitz beschädigt hatte, sind unsere integrativen und inkludierenden Möglichkeiten mit Tanz weiterhin erfolgreich“, sagt Sadowska. Mit ihrer Compagnie hat sie nicht nur Tanzpodeste bauen lassen in Industriebauten, deren Existenz sie wegen geplanter Überraschungsaktionen nicht zu häufig erwähnen will. Tanz-Aufführungen im historischen Stadtbad waren ausverkauft. Im Reformationsjahr 2017 gab es einen mit der TU Chemnitz ausgetüftelten Streifzug des Balletts zu „Luther & Marx“. Dieser wurde 2018 in Alexander Ekmans „Episode 31“ mit herzhaft kräftiger Ironie sogar zum Video-Environment des Ballettabends „Nordlicht“ im Opernhaus. Das Video von „artgenossen.de“ zeigte die im wolkenlosen Sonnenschein durch urbane Räume und Trambahnen pulsierende Compagnie. Dazu beteuerten Stimmen der Tänzer aus dem Off große Leidenschaft für ihre Profession und Passanten ihre große Lust darauf, das erleben zu dürfen.
Menschen, die bislang wenig mit Kultur zu tun hatten, sollen im Anspruch „für die Mitte“ interessiert werden. Angedacht sind im Bid Book zur Bewerbung ein Alleen-Parcours und ein Projekt, in dem 3.000 Garagen zu dekorativen oder performativen Schauräumen werden sollen. Sadowska weiß noch nicht genau wie, denkt aber eher in offenen Segmenten als in der Kategorie von expliziten Bühnenproduktionen.

Nach draußen verheißen zwölf Partnerstädte – die nächstgelegene ist Ústí nad Labem in Tschechien – eine enorm breite Aufstellung für kreative Kooperationen. Aber auch im eigenen Lebensraum und Gesichtsfeld gibt es bis 2025 viel zu tun. Seit 1989 hatte sich das Chemnitzer Geschäftszentrum vom Brühl auf das nach der Wiedervereinigung vollkommen neu bebaute Areal um den Roten Turm verschoben. Egal ob bei den Vorbereitungen zur Kulturhauptstadt 2025, bei der aktiven Renaissance von „Sächsisch-Manchester“ und Diskussionen um das Ambiente des 1971 errichteten Karl-Marx-Monuments: Immer geht es um Brüche in der Entwicklung einer urbanen Identität, die in Chemnitz noch drastischer spürbar sind als an anderen Orten Deutschlands, weil die drastischen Gewaltausschreitungen von rechts die bis 2018 lautesten waren. Inzwischen ereigneten sich das Attentat von Halle 2019 sowie die Querdenker-Demo in Leipzig und die AfD-Störaktion im Bundestag im November 2020. Sadowska und Dittrich wissen genau, dass der Weg zur Kulturhauptstadt 2025 die intensive Reflexion über regionale Identität und die Profilierung als drittgrößte Stadt des Freistaats Sachsen beinhalten und beeinflussen muss. Den Theatern und Museen kommt dabei eine wichtige Aufgabe zu.

Roland H. Dippel

 

 

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