Orpheus 2006 – das ist eher Strindberg als das humane Ethos der Vorklassik, das ist das alltägliche Liebesmartyrium, der selbstzerstörerische Kampf der Geschlechter und die letzte schwache Hoffnung auf den Trost durch die Kunst. Schon gleich zu Beginn entbrennt der Konflikt. Für die satztechnisch noch traditionell wirkende Unverbindlichkeit der Ouvertüre hat Zöllig einen angriffslustigen, sportiven Bewegungsduktus kreiert: Liebe und Vertrauen werden im eröffnenden Paartanz leichtfertig einer rigiden Ichbezogenheit geopfert. Alles Folgende erscheint wie ein nacherzählender Angsttraum Orpheus’ über den erlittenen Liebesverlust, wobei die Erinnerungssequenzen im Vexierspiel der fünf Orpheuse und sechs Eurydiken zu einer wahnhaften, gespenstischen und gelegentlich sogar komischen Fantastik eskalieren. Bei aller Virtuosität, Rasanz und Hingabe der Tänzer wird die pathetische bodenverhaftete Choreografie von einem gebremsten, in sich gebrochenen Gestus dominiert. Unentwegt knicken die Tänzer in sich zusammen, unerbittlich lässt Zöllig seine Orpheuse immer neue Verzweiflungstode erleiden, wobei ein mitleidloser Amor zusammen mit dem hinzuerfundenen Tod als Spielleiter und Menschenfänger fungiert. Äußerst hellhörig reagiert die Compagnie auf die tiefenpsychologischen Innervationen der Musik, so dass sich plötzlich hinter der so gepriesenen erhabenen Schlichtheit der Komposition ein seelisches Chaos auftürmt. Wenn im Elysium die versehrten Eurydiken sich in autistischer Weltabgeschiedenheit krümmen und winden, reflektiert das Beunruhigende und Irritierende daran sehr präzise den verborgenen schwermütigen Unterton des Orchesterklangs. Am gewagtesten gerät der qualvolle Aufstieg zur Erde: ein Kreuzweg des Eros mit allen Missachtungen, Demütigungen und Verletzungen, die passioniert Liebende einander antun können. Der gekränkte Stolz Eurydikes entfesselt eine wilde Rebellion der Frauen: Bewusst wird durch die ruhelose Expression der Gefühle eine optische Überforderung des Betrachters riskiert, der die vielen subtilen Grausamkeiten kaum alle zugleich wahrnehmen kann. Da mutet das rätselhafte Giocoso von Orpheus’ Arie „Che farò senza Euridice?“ wie die vorsichtige Verheißung einer Erlösung durch die reine, allen Schmerz zum befreienden Ausdruck sammelnde Musik an. Die Mezzosopranistin Kaja Plessing beglaubigt diese Idee durch die Schlichtheit, Natürlichkeit und Schönheit ihres liedhaft intensiven Gesangs. So bedenkenlos Zöllig das versöhnende Rokokofinale von Calzabigis Fabel preisgibt, so sehr bemüht er sich andererseits darum, die vokale Interpretin des Orpheus‘ durch ein dezent entrücktes Bewegungsvokabular mit der mythologischen Aura des Sängers zu überhauchen. Die szenische Führung der Chöre wirkt dagegen unmotiviert. Was als ein Kontrast zur gehetzten Ausdruckssprache der Tänzer gedacht sein mag, retardiert oft zu holzschnittartiger Steifheit und ist allein bei den Furien, die Orpheus am Tor zur Unterwelt als Bürokraten-Ttribunal empfangen, halbwegs überzeugend. Hagen Enke hat den Chor sorgsam präpariert. Nur gehen bei der stilgerechten Absicht, jeden Anflug rhetorischen Singens zu vermeiden, vereinzelt zu viel Farbe und Temperament verloren. Einen frühlingszarten Duft verströmen die Bielefelder Philharmoniker unter der Leitung von Carolin Nordmeyer, aber auch hier vermisst man mitunter die dramatischen Impulse der Partitur. Die finden sich, höchst eigenwillig ins Irrationale transformiert, dagegen um so mehr im existentiellen Tanz wieder. Mit ihrer ersten Opernadaption haben Gregor Zöllig und seine Compagnie eine inhaltlich aufwühlende, choreografisch kühne Arbeit zur Diskussion gestellt und das Theater Bielefeld in die vordersten Reihen zeitgenössischer Tanzkunst gelotst. Christian Tepe |
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