Aus Anlass des 20-jährigen Jubiläums seines Ensembles, noch dazu als Ballettwochenauftakt, hatte sich Ivan Liska ein abendfüllendes Stück gewünscht – was aber nie so recht Kyliáns Metier gewesen ist. Also hat er, man könnte es Ausweichmanöver nennen, zunächst einmal die Zuschauer in die von Choreografin Karine Guizzo mit vielerlei exotischen (Tänzer-)Vogelwesen belebten Gänge, Nischen und Depots der Unterbühne geleitet, um sie dann, ungewohnt, durch eine Öffnung im Bühnenboden, in das von virtuellen Möwen-Schwärmen durchflatterte Parkett zu entlassen. Der Ansturm auf diese unterirdische Begehung, wenn auch für Kenner solcher Raum-Inszenierungen verzichtbar, war in München enorm. Aus logistischen Gründen können jedoch nur 800 bis 1.000 Parcours-Gänger, und diese nur in kleinen Gruppen, eingelassen werden. Was Vorstellungs-Verspätung und ergo Verärgerung im wartenden Publikum verursacht. Auch Kyliáns Mischung aus Tanz und Film wurde vom weniger erlebnisoffenen Teil des Publikums beknurrt: Der Eintritt sei eine teure Kinokarte gewesen. Aber was für ein wunderschöner, berührender Film ist dem Duo Kylián und Boris Pavel Conen da gelungen: Eine hingewehte Schwarz-Weiß-Traumgeschichte, nah an Ingmar Bergman, über eine alternde Tänzerin – ausdrucksstark Kyliáns Ehefrau, die 58-jährige Sabine Kupferberg –, die in einem kleinen Mädchen die eigene unwiederbringliche Kindheit und Jugend sieht. Ein zart-bitterer Abschied von der Karriere, eingefangen in surrealistischen Bildern am holländischen Strand und in Foyers, Logen und im Kostümfundus des Münchner Nationaltheaters. Und was zwischen den vier zugespielten Filmsequenzen passiert, ist nun wirklich Tanz in allen Spielarten. Zunächst einmal Kylián, wie man ihn kennt, aus den Strawinsky-Balletten „Psalmensinfonie“ und „Svadebka“, den Berio- und Martinu-Stücken „Dream Dances“ und „Feldmesse“, dem von den australischen Aborigines inspirierten „Stamping Ground“ – euphorisierend. Und auch jetzt wieder wunderbar viel Energie, Dynamik, eine Fülle an Körperformen und Schritten – und immer aus der Quelle des Gefühls schöpfend. Wie junge Wildpferde preschen die Tänzer, einzeln oder in Gruppen, durch die hohen losen Vorhangstreifen der Bühneneinfassung (Michael Simon). In ihrem raumgreifenden Laufen, den eingeflochtenen fußengen „Bleistift-Pirouetten“ und Sprüngen liegt eine wilde selbstverwirklichende Rasanz. Wenn William Forsythes postmodern zerfallende Neoklassik einen Existenzpessimismus spiegelt, dann prallt uns hier jugendlich kämpferischer Lebenswille entgegen. Wie glücksgedopt, nicht zuletzt von Kyliáns so menschlicher Art, mit Tänzern umzugehen, wirft sich das Ensemble in diesen Stil, in den der Meister kultiviert alle neueren Strömungen integriert hat: die kleinteiligen Tanztheater-Handgesten wie den Breakdance, die postmodern verschrägte Neoklassik wie den bildnerischen Tanz, der die Bauhaus-Tänze der 20er-Jahre fortschreibt. Mindestens drei Meter hoch aufragender, keck mitwippender Kopfputz aus Luftkissen und riesige sich blähende Fallschirm-Mäntel (von Modekünstler Yoshiki Hishinuma) verwandeln schreitende und laufende Menschen in seltsame Paradiesvögel und Gleitflügler. Und im Finale zu Ravels melancholisch herbem „La Valse“ nehmen die Herren bodennahe Figuren und Hebungen in derart drehendem Schwung, dass die Partnerinnen in und auf ihren Armen zu fliegen scheinen. All diese (Tanz-)Lust ist vergänglich, das will der 62-jährige Kylián ganz deutlich vermitteln. Darum der Film. Darum auch ein von wisperklingenden Zauberwaldgeräuschen (Dirk Haubrich) umrauntes „älteres“ Paar als die immer präsenten „Schatten des Alters“. Vom großen Kylián, der den europäischen Modern Dance maßgeblich geprägt hat, der mit einer Junior Company und einer Senior Company für Tänzer über 40 (letztere 2006 aus finanziellen Gründen aufgelöst) international Trends und Maßstäbe setzte, von ihm jetzt dieses „Zugvögel“ im Repertoire zu haben, ist auf jeden Fall ein Zugewinn. Malve Gradinger |
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