Mit seinem musiktheatralischen Vermächtnis „enthierarchisiert“ Janácek, wie Hans-Klaus Jungheinrich anmerkt, „das Verhältnis zwischen Einzelnen und Masse; diese ist der einem einheitlichen Lagerschicksal unterworfene Gesamtakteur“. Aus der progressiven Werkdramaturgie zieht Regisseur Barrie Kosky für seine Inszenierung an der Staatsoper Hannover bahnbrechende Konsequenzen. Seine Regiearbeit ist eine avantgardistische Tat, ein Markstein in der Inszenierungsgeschichte des Stückes. Die blockartige Totalität des Lagerdaseins beraubt alle Insassen – die Sträflinge und nicht minder die Wachen – ihrer Würde und Individualität. Wo die Dialektik zwischen Individuum und Gesellschaft eingezogen ist, da lässt sich auch nicht länger ein Gefangenenmilieu in einem Umfeld realistischer Requisiten schildern. Was Kosky stattdessen zeigt, ist ein statischer, monadisch geschlossener Zustand von Gesellschaft. Wohl niemals zuvor dürfte der Aspekt der Dekomposition des melodischen Gewebes in Janáceks Partitur, das Auseinanderbersten des Ganzen in eine unverbundene Reihung und Schichtung ansatzloser Motivstümpfe, so kompromisslos in ein lapidares szenisches Kolossaltableau umgesetzt worden sein. In schäbigen Jeans und Pullovern hocken die Menschen am Anfang und am Ende auf einer grauen, schrundigen Betonfläche. Was sich dazwischen ereignet, enthält alles, wozu Menschen in ihrer Naivität wie in ihrer Rabiatheit, in ihrem Zynismus wie in ihrer Verletzbarkeit fähig sind. Kosky verweigert den Geschehnissen jedoch strikt eine überhöhende oder gar verklärende Sinnzuschreibung. Selbst den rudimentären Handlungsrahmen, den Janácek durch die Ankunft und Entlassung des politischen Häftlings Gorjantschikow andeutet, verlegt Kosky noch in den Binnenbereich dieses menschlichen Infernos. Seelische DramatikDie Effekte eines solchen Theatercoups sind außergewöhnlich. Dostojewski, dessen protokollarischen Bericht über das Leben in einem sibirischen Zuchthaus Janácek als Substrat seiner Oper nutzte, konnte vielleicht noch zu Recht sagen, dass das Lager ein besonderer Ort sei, der keine Ähnlichkeit mit der äußeren Welt aufweise. In der Totalität von Koskys Adaptation des „Totenhauses“ wird diese Differenz vollständig nivelliert. Gerade das „Totenhaus“ wird zu einem genauen Abbild der gesellschaftlichen Realität. Seine bemitleidenswerten Bewohner sind ganz normale Menschen von heute; die desperaten Mitglieder einer utopiefreien, zum Fatalismus neigenden Welt, die ohne Ausgang zu sein scheint. Und doch dringt in dieses hermetische Dasein ein Hoffnungsstrahl, wenn auch nicht von außen durch eine politische oder sonstige Heilsinstanz. Er kommt aus dem Inneren der Menschen selbst. Für ein paar Augenblicke treten in Janáceks Oper immer wieder einzelne Häftlinge stellvertretend aus der Anonymität der Masse hervor, um ihre Lebensbeichte abzulegen. Eine ungeheure seelische Dramatik durchpulst bei Kosky diese verzweifelten Selbstoffenbarungen schuldig gewordenen, verpfuschten Lebens, die gleichsam wie ein negativer Abdruck von Glück und Schönheit wirken. In Hannover sind das die ergreifenden Höhepunkte einer grandiosen Ensembleleistung. Die wilde Mitteilungssehnsucht der gedemütigten Menschen findet bei feinsinnigster vokaler Differenzierungsarbeit eine überwältigend ausdrucksintensive Präsenz der Darstellung von fast unerträglicher Spannung.
Man müsste aber auch jeden einzelnen der überaus hingebungsvoll spielenden Chorsänger nennen und ausführlich würdigen, um den aufwühlenden Gesamteindruck der Produktion zumindest annähernd wiedergeben zu können. Chordirektor Dan Ratiu hat den Herrenchor der Staatsoper gleichermaßen gut für die flüsternde Schicksalsergebenheit der Sträflinge wie für ihre kurzatmigen, herb-expressiven Aufwallungen präpariert. Das Niedersächsische Staatsorchester unter der Leitung von Generalmusikdirektor Wolfgang Bozic steigert sich geradezu in einen Janácek-Rausch mit letztmöglichem Zuwachs an Präzision und Schärfe. Diese Interpretation sprüht vor vulkanischer Energie und ruft unwillkürlich jene Worte in Erinnerung, mit denen der Komponist seine Gemütsverfassung während des Arbeitens am „Totenhaus“ illustrierte: „Ich bin dabei dermaßen aufgeregt, dass mein Blut herausschießen möchte.“ Dezent und routiniertDurchaus dezenter und gemessener geht der scheidende Chefdirigent John Fiore in Düsseldorf zu Werke, wo mit „Aus einem Totenhaus“ zum Ende der Ära von Generalintendant Tobias Richter nun der zweite Janácek-Zyklus an der Deutschen Oper am Rhein komplettiert worden ist. Fiore akzentuiert den mährischen Tonfall der Musik, ventiliert ihre tänzerischen Aromen, hütet sich dabei aber vor markanten Zuspitzungen oder schroffen Übersteigerungen. Überhaupt betont Fiores gelegentlich eine Spur zu routiniert daherkommende Herangehensweise stärker die formbildenden Kräfte des janácekschen Idioms, während man sonst in letzter Zeit – wie Wolfgang Bozic in Hannover – gerne die Zersplitterung, Erosion und Zerklüftung des Materials hervorkehrt. Für den Chor ermöglicht Fiores Werkauffassung einen weitaus würzigeren, slawisch-inbrünstigeren Klang von plastischer Emotionalität (Choreinstudierung: Gerhard Michalski). Schade nur, dass sowohl im ersten als auch im dritten Akt einige der erschütterndsten Einsätze der Männerchöre aus dem Off kommen, wodurch sie ihre unvergleichliche psychische Spannung verlieren. Einzelne Sänger der kleineren Solopartien neigen anfangs dazu, die sprachmelodischen Exklamationen zur veristischen Grimasse hin zu überziehen. Der Gesamteindruck einer vorzüglichen Sängerleistung mit großem Sentiment und reichen psychischen Schattierungen der individuellen Darbietungen wird dadurch aber kaum geschmälert. Regisseur Stein Winge präsentiert im zwar sachdienlichen, doch zugleich ratlos und unentschieden wirkenden Bühnenbild von Herbert Murauer eine handwerklich solide Arbeit mit klarer, jedoch auch konventionell zuordnender Charakterisierung von Sträflingen und Wachen als Opfern und Tätern. Winges Chorführung bleibt recht blass. Da gibt es des Öfteren leeres Herumgerenne. Insgesamt fehlt es der Produktion an Konsequenz und Innovation. Die bezwingende Wirkung musiktheatralischer Suggestion, wie sie gerade für die Aufführung einer Janácek-Oper unverzichtbar ist, will sich nicht so recht einstellen. Christian Tepe |
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