Das Libretto von Edmond Guiraud folgte dessen gleichnamigem Schauspiel über Joseph de Clorivière, einen bretonischen Chevalier. Der war Rädelsführer beim erwähnten Terror-Anschlag mit einer „Höllenmaschine“, dem Dutzende Passanten zum Opfer fielen. Guirauds Handlung entwickelt warme Sympathie für die offensichtlich von Menschenwürde beseelten Aristokraten, Verachtung für das opportunistische Volk sowie die hässlich-fanatischen und selbstsüchtigen Jakobiner. Da nun aber nicht nur dieser parteilich eifernde Blickwinkel auf die französische Konterrevolution, sondern auch das von Ottorino Respighi kolportierte Bild der aus Schwäche verführbaren Frau schräg erschien, wurde von der für 1915 vorgesehenen Uraufführung Abstand genommen. Auch später gab es keinen Bedarf, das Stück ins Licht zu rücken, obwohl der Komponist zu den großen Profiteuren der faschistischen Herrschaft in Italien und zum erfolgreichen Zulieferer von deren Rom-Kult avancierte1. Uraufgeführt wurde „Marie Victoire“ (unter Beibehaltung des französischen Librettos) erst 2004 im Teatro dell’Opera in Rom. Nun erfolgte die Deutsche Erstaufführung an der Deutschen Oper Berlin (wiederum französisch gesungen). Prächtige Sonnenaufgangsmusik quillt aus allen symphonischen Rohren, durch die hörbar auch schon Puccini, Richard Strauss und Debussy flossen und ihre Ablagerungen hinterließen. Der Chor der Deutschen Oper erweist sich neuerlich als einer der leistungskräftigsten im Lande: Als Sachwalter von Forderungen der Sansculotten droht er aus dem Hintergrund und stürmt nach vorn. Überhaupt ist er der entscheidende Faktor für die Imposanz der großen Tableaus. Für die allerdings legt Michail Jurowski den Klangstrom allzu breit an. In der pompösen Tonspur finden sich ausführliche Menuett-Zitate eingelagert, die mit zarteren Tinten die Ära des Rokoko beschwören. An kunsthandwerklicher Fertigkeit herrscht auch hinsichtlich der Bühnenbilder kein Mangel. Ein teilweise ramponiertes spätes 18. Jahrhundert deutet die nostalgisch schöne Ausstattung von Su-sanne Thomasberger und Petra Reinhardt an, zunächst hinter großen weißen Laken. Vorne sammelt sich die von gesellschaftlichem Umbruch bedrohte Aristokratie ums Rosenholz-Cembalo, während die Bedrohung durch jakobinische Dekrete und den terroristischen Strafvollzug mit filmmusikalischer Dramatik wächst. Takesha Meshé Kizart bestreitet die Partie der liebenden und leidenden Marie mit warmer sympathischer Stimme, die in den Krisensituationen auch große Kraft entfaltet und förmlich explodieren kann. Mit Markus Brück (als Ehemann), Germán Vilar (als Liebhaber) sowie Stephen Bronk (als Gärtner und interimistischem Gefängniswärter) sind auch die wichtigsten männlichen Rollen gut besetzt. Doch die Inszenierung von Johannes Schaaf dringt über die narrative Oberfläche nicht zu einer kritischen Darstellung dessen vor, was das Stück hinsichtlich (herbeigenötigter) Liebe und (gewaltsamen) Todes als schaurig-schönen Abgrund anbietet. Das Rührstück riecht am Ende nicht frisch. Die Erweckung dieser Konterrevolutionsoper aus ihrem Dornröschenschlaf ist keine „Entdeckung“, sondern eine politische Bekundung: Diese aufwändige Produktion nimmt einem neuen Werk den Platz im Spielplan weg. Ursprünglich war die Bayreuther Co-Intendantin Katharina Wagner für die Inszenierung von „Marie Victoire“ verpflichtet worden. Es wäre womöglich nicht ganz uninteressant gewesen, wie sie mit einem politisch so klar verorteten Werk Respighis verfahren wäre. Dass sie den Inszenierungsauftrag zurückzugeben hat und nicht weiter mit einem Rechtsausleger kokettierte, mögen ihr gute Geister geraten haben. 1 Zwischen den Uraufführungen von „Fontane di Roma“ und „Pini di Roma“ fand der „Marsch auf Rom“ statt, und mit „Feste romane“ legte der vom Duce höchstdekorierte Komponist noch einmal nach. Frieder Reininghaus |
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