Italien habe, schreibt Sciarrino im Werkkommentar, „das absurde Universum Kafkas zur Perfektion getrieben“. Im Namen der Effizienz lege sich die Bürokratie lähmend über das Land, überdeckt durch eine höhnische Inszenierung inmitten von „Folklore, Müll-Fernsehen und wirklichem Müll.“ Ist Deutschland davon so weit? Man stelle sich eine Vorort-Post vor: Parallel zu kräftiger Werbung hat man im Namen von Entflechtung, Entbürokratisierung und Kundenorientierung die Telefonzelle abmontiert, den Postbankdienst abgeschafft, die Packstation und den zweiten Kundenschalter abgebaut, die Öffnungszeiten reduziert. Trotzdem stehen immer noch Menschen an – bis auf die Straße, eisern schweigend, mit zusammengebissenen Zähnen. Kurt Tucholsky schrieb 1930: „Das deutsche Schicksal: Vor einem Schalter zu stehen. Das deutsche Ideal: Hinter einem Schalter zu sitzen.“ Heute heißt der Schalter Counter, Hotline oder Amtsblatt. In Johannes Weigands packender Wuppertaler Inszenierung, die der Komponist in den letzten Tagen vor der Uraufführung begleitet hat, lehnt sich vor einer schmalen Öffnung in der Mitte ein wohlgenährter Türhüter mit grauem Anzug, weißem Hemd und Krawatte bequem auf einen Stuhl. Seitlich steht, hager und leicht geduckt, Anzug und Hut schwarz, weißes Hemd ohne Krawatte, der „Mann vom Lande“. Wie im Zeitraffer läuft die Handlung ab. Während sich das Tor unmerklich in die Breite weitet und der Hintergrund heller wird, überlässt der Wächter dem Wartenden seinen Stuhl, zieht sich zum Spazierengehen den Mantel an und lässt den Durchgang aus dem Auge. Je größer der Radius des Bewachers wird, desto kleiner wird der Spielraum des Wartenden. Späht er zuerst noch mit schüchterner Neugier durch die Öffnung, so setzt er sich bald müde hin. Am Ende sinkt er, während sich der Hintergrund verdunkelt, ganz auf den Boden. Dem Sterbenden spricht der Türhüter ins Ohr, der Eingang sei nur für ihn bestimmt gewesen. Sciarrinos Komposition entfaltet auch hier eine leise, geräuschhafte Klangwelt. Zwei kurze flehende Floskeln von Bratsche und Cello in den ersten Takten charakterisieren die Grundsituation. Ihnen antworten leise, markante Bläsereinsätze. Im Hintergrund vibrieren fast fortwährend Luftgeräusche der Bläser und ein dünnes Donnerblech. „Der Klang des Röchelns bezeichnet und bestimmt diese Oper“, beschreibt der Komponist die beklemmende Atmosphäre, die das Sinfonieorchester Wuppertal unter Hilary Griffiths überzeugend realisiert. Die Singstimmen sind in rezitativischem Parlando gehalten: Der mit einem Tenor besetzte Bittsteller eher verhuscht und flehentlich, der Bass des Türhüters behäbiger und selbstbewusst – eine subtile Variante der Konstellation „Samuel Goldenberg und Schmuyle“ aus Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“. Der gesungene Text folgt mit Aussparungen und Varianten Kafkas Vorlage. La porta della legge“ trägt den Untertitel „quasi un monologo circolare“ („gleichsam ein kreisender Monolog“). Zwei dramaturgische Kunstgriffe, kompositorisch konsequent durchgeformt und beeindruckend unterstützt von Ausstattung, Film und Licht, machen aus Literaturvertonung Gesellschaftskritik. In der Sterbeszene des Bittstellers („Mann 1“ im Personenverzeichnis) erscheint hinter dem Türhüter ein Schatten: „Mann 2“, dem ersten ähnlich, begehrt Einlass, nur diesmal in Richtung Publikum. Ziemlich exakt wiederholt sich die erste Hälfte. Geändert hat sich die Orchestrierung, Gesangslinien und Instrumentalstimmen sind zum Teil vertauscht. Dialog und Bewegungen werden abgewandelt, und den Bittsteller übernimmt ein Countertenor. Klangbild und szenischer Gestus dieser zweiten Runde wirken zugespitzt – als ob beide Seiten ihre Rolle weiter verinnerlicht hätten. Immer enger wird nun das Tor, bis es sich vor der Schlussszene der Episode schließt. Sängerisch und darstellerisch wirkt Gerson Sales (Mann 2) im intensiven Zusammenspiel mit Michael Tews (Türhüter) ebenso souverän wie zuvor Ekkehard Abele (Mann 1). Anstelle des Schlussvorhangs folgt ein kurzes Zwischenspiel, getragen von einem pulsierenden Signalton, der das Besetztzeichen italienischer Telefone zitiert. Dann erblickt man die beiden Bittsteller in Konzertkleidung, wie sie ihre Partie gemeinsam singen. Gleichzeitig erscheinen sie kostümiert als Videoprojektion in einem Paternoster-Aufzug, wie man ihn in alten Bürohochhäusern findet: Erst einfach, dann doppelt, schließlich vervielfacht in 12 parallel hinauf- und hinunterfahrenden Ketten von Paternoster-Kabinen. Ein beeindruckendes Zusammenspiel von Ausstattung, Film und Licht. Kafka ist ewig kreisender Alltag geworden – es sei denn, man wagt mutig den Sprung aus der Kabine. Andreas Hauff |
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