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Kulturpolitik

Starke Opern-Frauen

Die Ersteinspielung der Oper „Sappho“ · Von Verena Fischer-Zernin

Man stelle sich vor: Maria Callas feiert ein Comeback als Mezzosopranistin. Es hätte dazu kommen können, hätte nicht im Jahr 1964 ein knurriger Intendant im kalifornischen San Francisco eine Auftragskomposition von seinem Schreibtisch gefegt. Wären ihm die Melodien nicht zu fremdartig gewesen, die Strukturen nicht kontrastreich genug, dann wäre „Sappho“, die Oper der australischen Komponistin Peggy Glanville-Hicks, schon vor fast einem halben Jahrhundert uraufgeführt worden. Und im Herbst 2012 würde sich nicht in Hamburg-Uhlenhorst eine junge Frau über einen Pappkarton mit 175 frisch gepressten Doppel-CDs beugen. In den Plastikhüllen stecken Abertausende Stunden von Jennifer Condons Leben: Die 29-Jährige hat die Ersteinspielung von „Sappho“ gestemmt.

Hat nicht aufgegeben: Jennifer Condon. Foto: Milena Schlösser

Hat nicht aufgegeben: Jennifer Condon. Foto: Milena Schlösser

Die Geschichte der Oper erstreckt sich über riesige Zeiträume und Distanzen, sie spielt in Sydney und Athen, in Hamburg und Lissabon. Es ist eine Geschichte von Leidenschaft und Beharrlichkeit, voller Musik und voller starker Frauen.

Da ist die Titelfigur Sappho. Ihr historisches Vorbild lebte im 7. Jahrhundert vor Christus im Kreise junger Schülerinnen auf der griechischen Insel Lesbos. Einigen Mädchen, die heirateten und die Insel verließen, widmete Sappho erschütternde Liebesgedichte. Ihr hoch persönlicher Ton war damals in der Dichtkunst völlig neu und begründete ihren Ruhm im gesamten Abendland.

Da ist die Komponistin. Die Australierin Peggy Glanville-Hicks, am 29. Dezember wäre sie 100 Jahre alt geworden, genoss in den 60er-Jahren einen Ruf als innovative Tonsetzerin. Zeitweise lebte sie in Athen, dort erhielt sie einen Kompositionsauftrag von der Ford Foundation: „Sappho“, komponiert auf ein Libretto des britischen Schriftstellers Lawrence Durrell, sollte an der San Francisco Opera herauskommen, die Hauptrolle sollte die Callas singen. Dazu kam es nie. Glanville-Hicks starb 1990 in Sydney.

Da ist die Australierin Simone Young, heute Generalmusikdirektorin und Intendantin der Staatsoper Hamburg. Der Opera Australia in Sydney und Melbourne war sie als Gastdirigentin verbunden, bevor sie von 2001 bis 2003 Chefdirigentin des Hauses war.
Und schließlich ist da ein sechsjähriges Mädchen aus dem australischen Städtchen Wollongong, das zum ersten Mal in Sydney in die Oper geht. Auf dem Spielplan steht „The Gondoliers“ von Gilbert und Sullivan. Die Chordamen gehen in Rosa, die ganze Bühne ist voller Menschen. „Ich habe gespürt, wer die Solisten waren, bevor sie sich aus der Menge lösten. Von ihnen ging eine einzigartige Energie aus“, erzählt Condon in ihrem fast akzentfreien Deutsch. „In dem Moment wusste ich, Oper wird mein Leben.“ An jenem Abend im Jahr 1989 beschloss sie, Mezzosopranistin zu werden wie die Hauptdarstellerin der „Gondoliers“. „Aber ich musste feststellen, dass aus mir nur eine neuntklassige Soubrette würde. Ich bin immer noch ein bisschen enttäuscht!“, sagt Condon und lacht.

Erste Begegnung

Statt den Mut sinken zu lassen, schrieb sie, inzwischen elfjährig, an Simone Young, sie wolle auch Operndirigentin werden. Prompt lud Young das Mädchen nach Sydney in die Oper ein. Bei einem Besuch blieb es nicht. Ungezählte Nachmittage ihrer Teenagerjahre verbrachte Condon fortan in Probenräumen und saugte das Repertoire hörend auf. 2001, Simone Young probte gerade für eine Operngala, saß Jennifer Condon wie üblich dabei – und hörte ein Stück, dessen Farbigkeit und elegische Intensität ihr die Sprache verschlugen: den Schluss aus „Sappho“, gesungen von Suzanne Johnston, ebenjener Mezzosopranis-tin, die zwölf Jahre zuvor das kleine Mädchen betört hatte.

Erstmals auf CD: Peggy Glanville-Hicks‘ Oper „Sappho“.

Erstmals auf CD: Peggy Glanville-Hicks‘ Oper „Sappho“.

„Sappho“ war unveröffentlicht und bis auf die Schlussszene nie aufgeführt worden. Condon fand das Manuskript im Australian Music Center: 500 Seiten etwa in der Größe DIN A3, bedeckt mit einem Gekrakel, das die an einem Hirntumor leidende Komponistin ihrer eingeschränkten Sehfähigkeit hatte abringen können. Doch was Condon lesen konnte, reichte ihr, um zu wissen: „Ich will etwas mit dieser Oper machen.“ Also schrieb die inzwischen 17-Jährige an den Verwalter von Glanville-Hicks‘ Nachlass: Sie hätte gern die Rechte an der Oper. Die Antwort fiel kühl aus: Condon solle doch erst einmal die Schule beenden. Condon beendete die Schule. Sie fragte wieder an – und wurde wieder abgewiesen. Sie studierte Klavier in Sydney und wählte „Sap-pho“ als Thema ihrer Dissertation in Musikwissenschaft. Immer wieder fragte sie bei der Stiftung nach, immer wieder wurde sie abgewimmelt.

2008 holte Young die junge Frau als Souffleuse an die Staatsoper. Condon war schon fast auf dem Weg nach Hamburg, da wendete sich das Blatt. Gerade hatte sie ihre „Sappho“-Unterlagen in der elterlichen Garage verstaut, da sah sie vor dem Küchenfenster zwei Eulen sitzen. „Peggy hatte einen Draht zu Eulen.“ Sie rief noch einmal beim Nachlassverwalter an. Und diesmal erwiderte er: „Wir überlegen es uns.“

Nervensäge

Er überlegte ein ganzes Jahr. Als sie den Verwalter 2009 erstmals persönlich traf, empfing er sie mit einem zweifelhaften Kompliment: „Sie sind eine absolute Nervensäge. Peggy hätte das genauso gemacht. Wir glauben, dass Peggy Sie gewollt hätte.“ Condon grinst, als sie das erzählt. „Mit Peggy Glanville-Hicks verglichen zu werden ist eine Ehre.“

Ein Etappenziel war erreicht. Aber die wirklichen Mühen kamen erst noch. Jahrelang übertrug Condon nachts die krakeligen Noten vom Papier in den Computer. 1.000 Stunden dauerte es allein, den Klavierauszug zu erfassen. Nur wenn Condon in der Staatsoper im Souffleurkasten saß, war „Sappho“ weit weg. „Man muss vollkommen konzentriert sein“, sagt sie. „Wenn ich müde bin oder keine Energie ausstrahle, spüren das die Sänger sofort.“

Prominente Partner

Die Komponistin bei der Entstehung der Oper. Foto: Archiv

Die Komponistin bei der Entstehung der Oper. Foto: Archiv

Von ihrem Holzkasten aus hat Condon die Sänger für ihr Projekt gewonnen. Den Anfang machte die Sopranistin Deborah Polas-ki. Während einer Probenphase saßen die beiden in einem Café. Condon war verzweifelt, weil es nicht gelingen wollte, ein australisches Sängerensemble für die Aufnahme zusammenzubekommen, da sagte Polaski: „Zeig mir mal die Noten. Wenn die Rolle etwas für mich ist, singe ich bei der Aufnahme.“ Condon überlegte schon laut, welchen Dirigenten man fragen könnte, da fuhr Polaski fort: „Ich singe nur, wenn du dirigierst. Das wird der Startschuss für deine Dirigentenlaufbahn.“

Deborah Polaski sagte zu. Mit dieser Hauptdarstellerin im Rücken fasste sich Condon ein Herz und fragte international bekannte Sänger. Und sie machten mit. Namen wie John Tomlinson und Wolfgang Koch stehen auf dem Cover der CD, neben dem Namen einer jungen, unbekannten Dirigentin: Jennifer Condon.

Als Condon den Dirigenten Lawrence Foster wegen eines Orchesters um Rat fragte, bot er ihr überraschend sein eigenes an, das Gulbenkian Orchestra in Lissabon. Condon bekam sechs Stunden, um sich und ihr Projekt vorzustellen. Zum ersten Mal dirigierte die junge Frau ein ausgewachsenes Sinfonieorchester. Zum ersten Mal verwandelte sich in Musik, was jahrzehntelang ein Stapel Papier war. Die Tonsprache der Oper ist herb und oft an die Pentatonik angelehnt, über weite Strecken deklamieren die Sänger, doch die Instrumentierung ist farbenreich. „Es waren vielleicht die großartigsten sechs Stunden meines Lebens.“

Kürzlich ist die Aufnahme in Australien erstmals ausgestrahlt worden – eine postume Genugtuung, fast ein halbes Jahrhundert nach der Absage aus San Francisco. „Auf dem Kompositionsauftrag lag kein Segen. Ich hätte das Stück auch abgelehnt, wenn ich nur den Klavierauszug gesehen hätte. Die Orchestrierung ist entscheidend für die Wirkung“, sagt Condon.

Auf dem Kiefernholztisch in ihrer Wohnung stapeln sich zurzeit Klavierauszüge. Condon verschickt sie mit den CDs an Regisseure und Intendanten. Denn ihre Mission ist ja noch nicht abgeschlossen. Ihr Ziel: „Sappho“ endlich auf die Bühne zu bringen.

Verena Fischer-Zernin

 

 

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