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Hintergrund

Der lange Marsch...

Dirigentinnen und ihre Situation im Musikleben

„Eine Berockte und 100 Mann zum Unisono bringen – das wär’ a Gaudi“, spottete einst der Komponist Richard Strauss zur Zeit der beginnenden Frauen-Emanzipation. Doch selbst nach „1968“ gab es ähnliche Urteile: Der eine Vielzahl von Dirigenten zwischen Abbado und Mehta ausbildende, mit einem bis heute faszinierenden „Ring des Nibelungen“ beeindruckende Hans Swarowsky giftete noch in den 1970er-Jahren eine Bewerberin an: „Gehen Sie dahin, wo Sie hingehören – in die Küche!“ 2012 ließ Yuri Temirkanow im gedruckten Interview auf die Frage nach weiblichen Vorzügen stehen: „Schwäche… Entscheidend ist, dass eine Frau schön, liebenswürdig und attraktiv sein sollte, und dann schauen die Musiker nach ihr und werden von der Musik abgelenkt.“ Auch Mariss Jansons äußerte: „Women on the podium are not my cup of tea.” Der russische Dirigent Vasily Petrenko führte 2013 ins Feld: „Die sexuelle Energie von Dirigentinnen kann ein Orchester verstören.“

Dennoch waren und sind Dirigentinnen auf dem langen Marsch durch die Institutionen. „Zu Beginn meiner Karriere hat die Tatsache, dass ich eine Frau bin, vielen Leuten definitiv nicht gefallen. Niemand hat das offen gesagt…, aber ich konnte das ganz deutlich spüren. Ich spreche wirklich nicht gerne über dieses Thema, aber es wäre ganz und gar unehrlich zu behaupten, dass es nie ein Problem war. Natürlich war es das, absolut“, sagt die 1980 in New York geborene und an der Manhattan School of music ausgebildete Mexikanerin Alondra de la Parra in einem Fernsehporträt. Sie ist geradezu ein Paradebeispiel. Ihre Begabung erkannte auch ein Kurt Masur und nahm sie in seinen Meisterkurs auf – herrliche Filmszene: Sie dirigiert; er lobt, aber: „Don’t paint!“ – und nimmt ihr den Dirigentenstab aus der Hand. Sein letzter Rat: „Sei stark!“ Dennoch bekam sie kein Engagement in New York oder ihrer Heimat Mexiko – sondern beim Queensland Symphony Orchestra in Australien. Inzwischen hat sich ihre Karriere weltweit ausgedehnt – doch wenn sie mit der renommierten Bremer Kammerphilharmonie in Hamburgs Elbphilharmonie gastiert, dann eben mit südamerikanischen Kompositionen: reizvoll, aber Nebenrepertoire, für das derzeit eine Frau gerne engagiert wird.

Oben: Simone Young. Foto: Monika Rittershaus.

Simone Young. Foto: Monika Rittershaus.

„Es gibt kein anschaulicheres Bild für Macht als die Tätigkeit des Dirigenten“, konstatierte der Dichter Elias Canetti. In einer Befragung von Orchestermusikerinnen und -musikern im Jahr 2008 entdeckte die Musikwissenschaftlerin Anke Steinbeck, dass „Sicherheit und Führung“ immer noch mit „Männlichkeit“ assoziiert werden – wie oben Yuri Temirkanow bestätigt. Nicht von ungefähr gibt es eine Fülle von Büchern zu männlichen Pult-Stars – von Abbado und Bernstein über Furtwängler bis zum für seine Ausbrüche so berühmten wie gefürchteten Arturo Toscanini. Fakten zu Dirigentinnen dagegen müssen aus mehreren, stark divergierenden Quellen zusammengesucht werden. Wohl unumstritten steht am Beginn Vittoria Raffaella Aleotti (geboren 1575, gestorben nach 1646), eine im 17. Jahrhundert auch in Deutschland bekannte Benediktinerin. Sie erhielt ihre professionelle musikalische Ausbildung nach Eintritt in den Orden San Vito in Ferrara. Als „maestra di concerto“ der hochgelobten, groß besetzten Aufführungen der Ordensschwestern verwendete sie zum Dirigieren der Instrumente bereits einen Taktstock, was innerhalb der Musikgeschichte eine Rarität darstellt.

Unten: Marin Alsop. Foto: Lukas Beck

Marin Alsop. Foto: Lukas Beck

Hier könnte nun eine historische Abhandlung in Buchformat folgen: musikalische Leiterinnen ganz im Schatten der männlich dominierten Musik- und Operngeschichte. Aus dem 19. Jahrhundert herausgegriffen: Sophie Charlotte, Preußens erste Königin, dirigierte vom Cembalo aus italienische Opern. Fanny Mendelssohn leitete die Sonntagsmusiken in Berlin – mehr wurde ihr von der Familie nicht gestattet. Im Musikland Deutschland ist der 5. November 1887 festzuhalten: Die Engländerin Mary Wurm dirigierte die Berliner Philharmoniker – bei eigenen Kompositionen, als Solistin ihres Klavierkonzerts und als „Concertgeberin“ – sie hatte das Orchester gemietet, um ihre Kompositionen öffentlich aufzuführen.

Barbara Hannigan. Foto: Marco Borggreve.

Barbara Hannigan. Foto: Marco Borggreve.

Über solche Besonderheiten hinaus brachte erst die emanzipatorische Frauenbewegung im 20. Jahrhundert den Umschwung. Herauszugreifen ist da Eva Brunelli, die am 8. November 1923 als erste Frau bei den Berliner Philharmonikern ein abendfüllendes Programm leitete. Ihr folgte 1924 die Engländerin Ethel Leginska, und 1930 hatten gleich zwei Frauen ihren Auftritt bei den Berlinern: die Brasilianerin Joanidia Sodré und die in Rotterdam geborene, in Amerika aufgewachsene Antonia Brico. Für beide Damen bildete das philharmonische Konzert den Abschluss ihres Berliner Musikstudiums. Brico war dann Gastdirigentin beim Los Angeles Philharmonic Orchestra und dem San Francisco Symphony Orchestra. Nach einer Konzerttournee durch Deutschland, Lettland und Polen ließ sie sich 1932 in New York nieder. Hier debütierte sie 1933 mit dem „Musicians’ Symphony Orchestra“ am Metropolitan Opera House – doch eine leitende Stelle blieb ihr verschlossen. Ähnliches gilt für Joanidia Sodré und auch für die als Lehrerin weltberühmte Nadia Boulanger: Sie stand nur einmal 1938 als erste Frau am Pult des Boston Symphony Orchestra. Sie alle sind Beispiele für die Mehrzahl damals beginnender Dirigentinnen: Ohne dauerhafte Engagements wechselten die meisten in die Chorleiterin- oder Lehrtätigkeit oder gründeten eigene Ensembles.

NACH 1945

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mehrten sich erfolgreiche Einzelbeispiele. Eve Queler (*1931) fiel zwar mit ihrer herausragenden Begabung auf, wurde aber nie an die Metropolitan oder City Opera engagiert. So gründete sie 1971 das „Opera Orchestra of New York“, dirigierte eine Fülle von Konzert-Aufführungen und beeindruckte damit auch hierzulande: durch singuläre Platteneinspielungen, etwa von Massenets „El Cid“ oder Donizettis „Gemma di Vergy“ – also wieder des Seitenrepertoires, für das sich damals keiner der arrivierten männlichen Pult-Tiger interessierte.

Joanna Mallwitz. Foto: Lutz Edelhoff

Joanna Mallwitz. Foto: Lutz Edelhoff

„Ich glaube, in jedem Beruf, in dem es ungewöhnlich ist, eine Frau zu sehen, muss es immer erst eine Frau geben, die die Tür aufmacht und zeigt, dass eine Frau durch diese Tür gehen kann. Und wenn sie einmal durch diese Tür gegangen ist, dann bleibt die Tür offen für die anderen.“ Das Zitat stammt von Simone Young (*1961). Der Australierin gebührt das Verdienst, den deutschen Horizont für Dirigentinnen wirklich breit geöffnet und erweitert zu haben. Von ihrem Operndebüt in Sydney 1985 über viele europäische Stationen dauerte es bis 2005. Dann wurde sie Generalmusikdirektorin und später Intendantin der Hamburger Staatsoper. Nicht zuletzt diese Doppelbelastung und deswegen einsetzende Kritik führten dazu, dass sie ihren Vertrag 2015 auslaufen ließ und seither frei tätig ist. Ähnlich offenkundig erfolgreich ist nur Marin Alsop (*1956), die seit 2007 mit dem Baltimore Symphony Orchestra musiziert und zahlreiche Werke des Seiten-Repertoires aufgenommen hat. Sie kam schon 2013 als erste Dirigentin zu den „Last Night of the Proms“ und leitet seit September 2019 das RSO Wien. Alsop hat eine Fülle an musikalischen Projekten vor, um „die Vergangenheit zu ehren und die Zukunft zu erobern“, auch in Produktionen im Theater An der Wien. In Frankreich hat sich Emmanuelle HaÏm (*1962) mit ihrem eigenen Ensemble einen Ruf als herausragende Barockspezialistin erarbeitet – nachdem sie von William Christie und Simon Rattle gefördert und empfohlen wurde. Barbara Hannigan (*1971) setzte sich mit ihrem speziellen Talent durch, weil sie mit extremem Körpereinsatz ungemein medienwirksam spielte, sang und auch noch dirigierte – eine „Orchidee“ aus der Sicht des Feuilletons.

Giedre Slekyte. Foto: Olena Tokar.

Giedre Slekyte. Foto: Olena Tokar.

Aktuell ist „die weibliche Pult-Szene“ in Bewegung, wie diese Reihung beweist: Da ist Kristiina Poska (*1958), die von 2012 bis 2016 an der Komischen Oper Berlin dirigierte und demnächst Aufführungen in Dresden, Stuttgart und Basel leitet; weiter zu Julia Jones (*1961), die nach mehreren Premieren in Frankfurt als Musikchefin nach Lissabon ging und seit Herbst 2016 Chefdirigentin in Wuppertal ist. In Stuttgart ist die Brasilianerin Monica Vasques (*1961) von 2000 bis 2004 Leiterin der Filderharmonie sowie Gründerin von Akademie Chor und Akademie Orchester Stuttgart; die Finnin Susanna Mälkki (*1969) gilt als Spezialistin für Zeitgenössisches, ist so der „musica viva“ des Bayerischen Rundfunks schon länger verbunden und steht für Modernes beim New York Philharmonic Orchestra in Diskussion. Dann die Chinesin Xian Zhang (*1973): Nach Pekinger Dirigaten führten viele internationale Auftritte – so 2008 als erste Frau am Pult der Staatskappelle Dresden – 2016 zur Verpflichtung als Erste Gastdirigentin des BBC National Orchestra of Wales und als erste Frau auch ans Pult der „Last Night of the Proms“; die Russin Anna Skryleva (*1976) wirkt seit August 2019 als GMDin der Oper Magdeburg; die Estin Anu Tali (*1972), die nach Gründung eines eigenen Orchesters in ihrer Heimat seit 2013 in Sarasota/Florida Chefin des dortigen Orchester ist und eben vom Bayerischen Rundfunk zu einem Sonderkonzert eingeladen wurde; da ist Marie Jacquot (*1990), die über das Mainfrankentheater Würzburg als Kapellmeisterin an die Deutsche Oper am Rhein verpflichtet wurde, und die Französin Ariane Matiakh (*1980), die 2019 GMDin an der Oper Halle wurde, dort aber ihren Vertrag schon wieder gelöst hat. Noch mehr im Rampenlicht steht die Litauerin Mirga Gražinytė-Tyla (*1986), die über die Stationen Heidelberg, Landestheater Salzburg und weitere Gastdirigate nach Simon Rattle und Andris Nelsons die erste Musikdirektorin des City of Birmingham Symphony Orchestra wurde und als erste Frau einen Exklusivvertrag der Deutschen Grammophon bekam. Demgegenüber steht Ewa Strusińska (*1976) eher in einer „Randposition“: nach Stettin nun Generalmusikdirektorin der Neuen Lausitzer Philharmonie und des Theaters in Görlitz/Zittau. Viel Publicity umgibt derzeit die über Erfurt und Erfolge an der Oper Frankfurt zur GMDin des Staatstheaters Nürnberg aufgestiegene Joana Mallwitz (*1986) – sie macht mit der Reihe „Neue Noten“, ihrer überragenden Fähigkeit zu locker moderierten „Expeditionskonzerten“ und mitreißenden Operndirigaten gerade fast schon beängstigend Furore, nachdem sie von der „Opernwelt“ zur „Dirigentin des Jahres“ gewählt wurde. Als neuer „Geheimtipp“ wird die Litauerin Giedrė Šlekytė (*1989) in Fachgesprächen genannt: Aus dem europäischen Erasmus-Programm hervorgegangen, ist sie bislang in vielen Gastdirigaten aufgefallen, will aber nach Selbstaussage noch viel lernen und folgt daher 2021 Vladimir Jurowski als Assistentin an die Bayerische Staatsoper.

Ariane Matiakh. Foto: Marco Borggreve

Ariane Matiakh. Foto: Marco Borggreve

Über sie alle findet sich im Internet bereits einiges – immerhin sind damit im Musikland Deutschland etliche Frauen in Leitungsfunktionen: eine zunehmend breite weibliche Welle Richtung Pult – doch verglichen mit Männer-Positionen…? Als der kleine Sohn der Dirigentin Gisèle Ben-Dor nach einem Konzert seiner Mutter gefragt wurde, ob er denn auch einmal Dirigent werden wolle, sagte er: „Nö, das ist doch was für Mädchen!“ Doch bis dahin gilt der alte Feministinnen-Slogan „Frauen…“ noch in gezielter Abwandlung „Dirigentinnen – bildet Banden!“ – denn männliche Seilschaften existieren zur Genüge: von den Professoren über Agenten hin zu Intendanten und berufenden Gremien. Immerhin hat Mirga Gražinytė-Tyla die renommierten und populären „BBC Proms“ mit einem von ihr konturierten Programm dirigiert: Elgar, der halb vergessenen Komponistin Dorothy Howell und Weinberg. Doch weitere Zwischenstufen sind zu erfragen: Wann wird erstmals eine Frau das weltweit übertragene Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker dirigieren? Wann die Spielzeiteröffnung der Mailänder Scala? Auf dem Sprung in diese bislang männerdominierte Opernwelt ist die Ukrainerin Oksana Lyniv (*1978), die fünf Jahre Musikdirektorin der Oper Odessa war, dann als Assistentin von Kirill Petrenko mit großer Dirigierverpflichtung in München so auffiel, dass sie bis Saisonende 2020 Chefdirigentin der Oper Graz und der dortigen Philharmoniker ist, dazwischen eine Bartók-Premiere an der Bayerischen Staatsoper leitet und dann „frei“ neben Frankfurt und Berlin die Stationen Paris – London – USA vor sich hat. Um sie gibt es einen noch nicht veröffentlichten, gerüchte-umschwirrten „Silberstreif“: den „Fliegenden Holländer“ in Bayreuth soll 2021 erstmals eine Frau leiten…

Wolf-Dieter Peter

 

 

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