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Kulturpolitik

Was ist eine gute Stimme?

Marilyn Schmiege, Präsidentin des Bundesverbands Deutscher Gesangspädagogen im Gespräch mit Juan Martin Koch

„Der Bundesverband Deutscher Gesangspädagogen (BDG) e.V. ist eine Vereinigung von Gesangspädagogen aus dem Bereich der Musikhochschulen, Musikakademien, Konservatorien und Musikschulen sowie selbstständiger Gesangslehrer in Deutschland. Er wurde am 16. April 1988 in Detmold gegründet. Er ist Mitbegründer und Mitglied der European Voice Teachers Association – EVTA – und vertritt, seit 1.1.2018 auch als Berufsverband, die Interessen der Gesangspädagogen in Deutschland.“ So stellt sich der BDG auf seiner Webseite vor. Mit seiner Präsidentin, der Sängerin und Honorarprofessorin an der Münchner Musikhochschule Marilyn Schmiege sprach Juan Martin Koch über die Ziele und Aufgaben des Verbands, die Situation an Musikhochschulen und den Zustand der Gesangskunst allgemein.

Koch: Der BDG wurde 1988 gegründet. Wie kam es dazu und wie hat er sich seither entwickelt, vielleicht auch gewandelt?

Marilyn Schmiege. Foto: Thomas Stimmel

Marilyn Schmiege. Foto: Thomas Stimmel

Marilyn Schmiege: Vorläufer des BDG war der erste International Congress of Voice Teachers (ICVT) 1987 in Straßburg. Dort haben die anwesenden Deutschen sich überlegt, einen nationalen Verband zu gründen, in dem Gesangspädagogen, Phoniater und andere Interessierte zusammenkommen können, um sich auszutauschen. Ziel war es, die Kluft, vor allem in der Sprache, zwischen der Gesangspädagogik und der Medizin zu überbrücken. Das wurde dann ein Jahr später umgesetzt, mit etwa 30 Gründungsmitgliedern, mittlerweile haben wir um die 1.300. Der Verband war am Anfang relativ elitär, mit vielen Hochschulprofessoren, inzwischen sind viele Selbstständige und Lehrbeauftragte dazu gekommen und bilden mittlerweile die Mehrheit. In den letzten Jahren hat sich außerdem die Mitgliedschaft von „nichtklassischen“ Gesangslehrern verstärkt. Das begrüßen wir, denn Stimme ist Stimme, und gesundes Singen ist gesundes Singen, egal in welchem Genre. Im Gesang ist schlechter Unterricht, grob gesagt, Körperverletzung. Da kann man nicht wieder gutzumachenden Schaden anrichten.

Koch: Wie kamen Sie persönlich zum BDG und in Ihr jetziges Amt?

Schmiege: Eine gute Freundin hielt 2007 eines der Mitgliederforen beim BDG-Kongress und lud mich ein zu kommen. Ich war begeistert von der Veranstaltung und bin, nachdem ich zwei Jahre lang unterrichtet hatte, wie es die Satzung vorsieht, Mitglied geworden. Als dann der Kongress Eurovox in München anstand, wurde ich eingespannt, die Raumplanung zu machen. Das war eine neue Herausforderung für mich! Kurz danach wurde ich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, als Präsidentin zu kandidieren. Seit 2014 bin ich jetzt im Amt, meine zweite Amtszeit läuft bis 2022.

Koch: Sie haben die Satzung angesprochen. Welche Voraussetzungen gibt es für eine Mitgliedschaft im BDG?

„Es gibt einige Grauzonen“

Schmiege: Wir verlangen entweder ein staatlich anerkanntes gesangspädagogisches Studium oder eine sängerisch-künstlerische Abschlussprüfung und zwei Jahre gesangspädagogische Praxis. Auch eine mehr als fünfjährige sängerische Berufstätigkeit im Zusammenhang mit der Unterrichtspraxis und weiterbildenden Maßnahmen erkennen wir für die ordentliche Mitgliedschaft an. Unsere Einstellung im Verband ist die, dass Menschen, die unterrichten, dazu ausgebildet sein müssen. Wir wollen den BDG zu einem Gütesiegel für gesunde Gesangspädagogik machen. Seit ich Präsidentin bin, schauen wir bei den Anforderungen zur Mitgliedschaft genauer hin. Wir verlangen Nachweise für den Unterricht, wenn er in privatem Rahmen stattfindet, und begutachten jeden einzelnen Antrag auf Mitgliedschaft in den Vorstandssitzungen. Es gibt einige Grauzonen wegen der vielen Musical-Ausbildungsstätten. Da gibt es einige sehr gute, aber auch andere…

Koch: Wie kam es dazu, dass der BDG vor zwei Jahren zum Berufsverband wurde?

Schmiege: Der Verband hat sich einfach mehr und mehr zu einem Berufsverband entwickelt. Das war schon früher eine Forderung vieler Mitglieder, als wir noch gemeinnützig waren. Aber ein Verband kann entweder gemeinnützig sein oder Interessen vertreten. So sind wir diesen Schritt gegangen, haben 2018 die Gemeinnützigkeit abgegeben und können unseren Mitgliedern seitdem zum Beispiel Rabatte bei unseren Fortbildungen geben. Auch von der zunehmenden Nähe zum Deutschen Tonkünstlerverband profitieren wir enorm, auch was die politische Wirkung betrifft, die wir als kleiner Verband sonst nicht hätten.

Zertifikate und Fortbildungen

Koch: Der BDG bietet auch Zertifikate an, was hat es damit auf sich?

Schmiege: Weil es unter unseren Mitgliedern viele gibt, die keinen gesangspädagogischen Abschluss haben, führen wir seit 14 Jahren den Lehrgang GPZ (Gesangspädagogisches Zertifikat) durch. Das sind vier sehr intensive Wochenenden innerhalb eines Jahres. Am Ende, wenn man die vier Prüfungen besteht, bekommt man diese Urkunde. Im Moment sind wir dabei, den Verband akkreditieren zu lassen, in der Hoffnung, dass wir dann das GPZ in den Jobcentern anerkannt bekommen, damit man dafür Bildungsgutscheine erhalten kann. Seit 2015 können wir außerdem einen zweiten Lehrgang zur Pädagogik des populären Gesangs (PPG) anbieten, den Professor Sascha Wienhausen ins Leben gerufen hat.

Im Gesang ist schlechter Unterricht, grob gesagt, Körperverletzung. Da kann man nicht wieder gutzumachenden Schaden anrichten.

Koch: Ihre Satzung verpflichtet die Mitglieder seit Anfang 2018 dazu, sich regelmäßig fortzubilden. Welche Möglichkeiten bieten Sie dafür an?

Schmiege: Wir geben vor, dass innerhalb von vier Jahren mindestens 30 Fortbildungspunkte gesammelt werden müssen. Das ist zum einen im Rahmen unserer Jahreskongresse möglich, aber auch durch Passivteilnahme an GPZ oder PPG. Zum anderen zertifizieren wir aber auch andere Veranstaltungen, beispielsweise das Leipziger Symposium zur Kinder- und Jugendstimme, die Stuttgarter Stimmtage, die Fachtagung Gesang in Ochsenhausen und viele andere kleinere Veranstaltungen. Wenn die Qualität der Dozenten, der gesangspädagogische Bezug und die Dauer der Kurse stimmen, kann man als Veranstalter die Zertifizierung bei uns beantragen; die Zahl hat sich in den letzten drei Jahren verfünffacht. Wir selbst bieten außerdem die regionalen Fortbildungen „BDG vor Ort“ an, damit Mitglieder die Punkte auch wohnortnah sammeln können.

„U-Boot-Lehrer“ als Problem

Koch: Der Kodex, zu dem sich Ihre Mitglieder beim Eintritt verpflichten, fordert unter anderem, „dafür zu sorgen, dass die Lehrergebnisse anderer Lehrer respektiert und sie nicht den eigenen Leistungen zugeschrieben werden sowie Schüler anderer Lehrer nicht ohne das Mitwissen der Kollegen zu unterrichten, es sei denn im Rahmen einer Studienberatung, bei Kursen, Meisterklassen oder Kongressen“. Ist dies ein Punkt, der in der Gesangspädagogik besonders heikel ist, dass man ihn so betonen muss?

Schmiege: Ich denke schon! Es gibt Hochschulen, an denen bekannt ist, dass Studierende sich von externen Lehrern unterrichten lassen. Das ist schlecht für den Schüler, für den „U-Boot-Lehrer“ und für den Professor. Wenn der Schüler schlechter singt, weiß man nicht warum; wenn er besser singt, bekommt der Falsche die Lorbeeren…

Koch: Sie wünschen sich, dass hier offen kommuniziert wird?

Schmiege: Das wäre das Mindeste, ja! Man kann die Studierenden leider auch manchmal verstehen. Sie kommen ja nach der Aufnahmeprüfung nicht immer zu ihren Wunschprofessoren.

Berufungspolitik

Koch: Wie ist die Berufungspolitik der Musikhochschulen im Gesangsbereich zu bewerten? Können Sie da etwas beeinflussen?

Schmiege: Ich fürchte, nein. Das beschäftigt uns seit längerem. Es gibt da sehr verschiedene Meinungen. Es gibt zwar Lehrproben an den Hochschulen, die dann aber eine Entscheidung treffen müssen: Wollen wir uns mit einem großen Namen brüsten, der aber möglicherweise vom Unterrichten und von der Stimmphysiologie keine oder wenig Ahnung hat, oder jemanden, der den Studierenden gutes Singen beibringt? Es wäre wunderbar – dazu wurden bei uns Stimmen laut –, wenn die Hochschulen bei Berufungen eine Mitgliedschaft im BDG mitberücksichtigen würden, aber das ist leider – noch – utopisch.

Koch: Haben Sie als Verband auf das „#MeToo“-Thema reagiert?

Schmiege: An den Hochschulen ist das Bewusstsein schlagartig, schockartig gekommen. Wir haben das als Verband nicht explizit thematisiert, aber jeder, der Mitglied wird, verpflichtet sich, unseren Kodex einzuhalten. Sollten wir von einem solchen Vorgang erfahren, dann wäre natürlich der Ausschluss aus dem Verband die Konsequenz. In den Lehrgängen wird immer betont, dass natürlich gefragt werden muss, bevor es bei bestimmten Übungen zu Körperkontakt kommt. Außerdem kann man ja auch andere Wege finden, um bestimmte Dinge, etwa die Atmungsmuskulatur in Rücken und Bauch, zu zeigen.

Ausbildung zum Chorsänger

Koch: Wie sieht es mit der Ausbildung zum/zur Chorsänger/-in in Deutschland aus? Was sollte die Ausbildung hier beinhalten – anstatt oder zusätzlich zur Gesangsausbildung zum Solisten?

Schmiege: Chorsänger leisten Enormes. Sie brauchen eine sehr stabile Gesangstechnik, um die täglichen Proben und fast täglichen Vorstellungen gut zu bewältigen. Außerdem müssen sie Teil eines Ensembles sein, menschlich wie stimmlich, und sich dafür entsprechend anpassen können und wollen. Gerade am Anfang eines Chorengagements sind viele neue Partien einzustudieren, auch Vielseitigkeit ist notwendig. Ein wichtiger Teil eines Studienganges für Chorsänger wäre also das Erlernen des Standardrepertoires. Ansonsten würde man hoffentlich in einem normalen künstlerischen Studiengang auch eine gute, belastungsfähige Technik mit dazu notwendigem Einbeziehen stimmphysiologischen Wissens, das Agieren auf der Bühne und Ensemblearbeit lernen.

Koch: Der nun leider abgesagte BDG-Jahreskongress in Karlsruhe hätte Ende April unter dem Motto „Lied und Song“ stehen sollen. Wie kam es zu diesem Thema?

Schmiege: Wir machen die Kongresse immer in Verbindung mit einer Hochschule. Wir wollten schon lange mal nach Karlsruhe, weil es dort eine starke Lied-Präsenz gibt. Ausdrücklich wollten wir aber nicht nur das Lied thematisieren, sondern auch den Song, um die „Nichtklassiker“ einzubinden. Wir hatten zum Beispiel die Kollegin Cathrine Sadolin aus Kopenhagen eingeladen, um ihr sehr erfolgreiches Konzept der „Complete Vocal Technique“ (CVT) zu vermitteln.

„Die Lieder werden nicht ausgehen“

Koch: In der Klassik gilt der Liederabend als Veranstaltung in der Krise. Also jetzt erst recht?

Schmiege: Krise ja, aber es gibt Initiativen, die gegensteuern: in München zum Beispiel die Serie „Liederleben“ oder den „LiedCampus“ in Freiburg. Das Lied war immer eine Nische, auch als die größten Namen aktiv waren, aber es ist noch da. Es verlangt viel Konzentration beim Zuhören. Aber es ist eine wunderbare Kunstform, die auch für den Unterricht sehr wichtig ist. Das Repertoire ist uferlos, es gibt so viele wunderschöne Lieder, in allen Sprachen, Epochen und Schwierigkeitsgraden. Die Dauer ist kurz, der Tonumfang ist meist nicht so groß. Auch Anfänger und Menschen, die keine Opernstimme haben, können ihr Leben lang singen, aber die Lieder werden nicht ausgehen.

Koch: Man hat den Eindruck, dass viele Opernsänger Probleme haben, ihre Stimme für das Lied „herunterzufahren“. Stimmt dieser Eindruck?

Schmiege: Ich bin nicht der Meinung, dass man die Opernstimme herunterfahren muss. Eher muss man, um über ein Orchester zu kommen, bestimmte Resonanzen ganz bewusst ansteuern. Das ist dann im Lied, in kleineren Räumen, nicht in dem Grade verlangt. Es ist auch eine Marktfrage: Die Veranstalter haben Angst, dass beim Liederabend keiner kommt. Es sei denn, es sind große Namen, und die kommen eben aus der Oper. Die wenigsten Sänger mit großem Namen wiederum können sich erlauben, ein Programm vorzuschlagen, das nicht aus Schubert, Schumann und Brahms besteht. Es ist Sängern wie Christian Gerhaher hoch anzurechnen, dass sie das trotzdem machen.

Koch: Immer wieder ist von „Krisen der Gesangkunst“ die Rede. Ganz allgemein, oder auf bestimmte Teilgenres und Komponisten bezogen. Es gäbe keine guten Wagner- oder Verdi-Stimmen mehr, heißt es dann zum Beispiel. Ist das Kritikergeschwätz oder ist da was dran?

„Wer das schafft, muss sehr robust sein“

Schmiege: Was ist eine gute Stimme? Sprechen wir von einer Opernstimme, dann ist eine laute Stimme gefragt, eine bestimmte Physis, und die gibt es heute nicht mehr so wie früher. Früher wurde außerdem live nicht das erwartet, was wir heute erwarten, wo wir den Vergleich mit perfekten CDs haben, für die im Tonstudio bei jeder Phrase nach mehrmaligem Wiederholen die beste Version gewählt wurde. Wenn man früher ein Engagement in den USA hatte, reiste man mit dem Dampfer eine Woche lang und kam ausgeruht ohne Jetlag und ohne Austrocknung der Schleimhäute an. Heutzutage kommen die Stars an, singen, fliegen am nächsten Tag weiter, haben vielleicht eine Probe und singen dann die nächste Aufführung … Wer das schafft, muss sehr robust sein. Ein anderer Grund liegt darin, dass sich die Karrieren sehr verändert haben in den letzten 20 Jahren. Ein allmählicher, vorsichtiger Aufbau ist schwierig heutzutage. Aber eine „Krise der Gesangskunst“ existiert meines Erachtens nicht: Es gibt viele gute Sänger, die sich in einem engen Markt behaupten und ihren Platz suchen müssen.

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