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Berichte

Zwischen Realität und Traum

„Die Sache Makropulos“ an der Berliner Staatsoper

1926 wurde Leoš Janáčeks Oper „Die Sache Makropulos“ in Brünn uraufgeführt. Eine Oper ohne Arien und mit phantastischer, ja utopischer Handlung, frei nach einer Komödie von Karel Čapek. Sie wurde zwar ein großer Uraufführungserfolg, aber es gab vor dem Zweiten Weltkrieg nur eine einzige weitere Aufführung, die Deutsche Erstaufführung unter Josef Krips 1929 in Frankfurt am Main. Erst in den 1960er-Jahren wurde das musikalische Kriminalstück über Unsterblichkeit von Sir Charles Mackerras in London wiederentdeckt. Mit Elisabeth Söderström hat er die bis heute unübertroffene Schallplatteneinspielung vorgelegt. Durch die Inszenierung Nikolaus Lehnhoffs vom Glyndebourne Festival 1995 mit Anja Silja in der Hauptpartie der Emilia Marty trat das Stück auf seinen Gastspielen quer durch Europa einen triumphalen Siegeszug an. Zuletzt hatte Dmitri Tcherniakov, gemeinsam mit dem tschechischen Dirigenten Jakub Hrůša und mit der außergewöhnlichen Sängerin Evelyn Herlitzius 2019 eine zu Recht gefeierte Inszenierung des Stücks präsentiert, das es ja mehr als alle anderen Werke Janáčeks außerhalb des Heimatlandes schwer hatte auf den Bühnen.

Marlis Petersen als Emilia Marty, Natalia Skrycka als Krista, Bo Skovhus als Jaroslav Prus und Lara Mohns als junge Marty. Foto: Monika Rittershaus

Marlis Petersen als Emilia Marty, Natalia Skrycka als Krista, Bo Skovhus als Jaroslav Prus und Lara Mohns als junge Marty. Foto: Monika Rittershaus

Nun hat Claus Guth, gemeinsam mit seinem großartigen Bühnenbildner Étienne Pluss, mit der fabelhaften Ursula Kudrna, die für die stilvollen Kostüme zuständig ist, und dem Lichtzauberer Sebastian Alphons eine Inszenierung des erschütternden Stücks vorgelegt, die einem fast die Sprache verschlägt.

Er hat die vorletzte Oper Janáčeks mit ihrem Thema der menschlichen Sehnsucht nach Unsterblichkeit und einer durch die Jahrhunderte hindurch lebenden, nicht sterben wollenden Frau als Sängerin in immer neuen Gestalten als theatralische Mischung aus Traum, realistischem Anwaltskanzleistück, voyeuristischer Theater-Hinterbühnenkomödie und Hotelfoyersfarce mit tragischem Ende angelegt. Balletttänzer (Choreografie: Sommer Ulrickson) sind mal Kellnerballett, Anwaltsgehilfen, Theaterdiener im Frack, die mit zeitlupenhaft erstarrenden Posen, rhythmischen Zuckungen der Produktion etwas Groteskes beisteuern. Die psychologische Personenführung Guths ist beeindruckend. Er versteht es, die komplizierte Handlung und die Seelenlagen der dramatischen Personen zu veranschaulichen. Er reichert seine Inszenierung mit symbolischen, ja metaphorischen Vorgängen an, die ihr etwas Surreales geben. Beispielsweise lässt er Emilia Marty mal als alte Frau mit Glatze, mal als Blonder Engel der Janáček-Zeit mit fröstelndem Sexappeal, mal als Kind (als lebendes Bild der berühmten Infantin von Velazquez) auftreten. Auch eine alte Frau am Stock latscht immer wieder durchs Bild. Einmal lässt Guth diese drei Lebensstufen Jugend, Blütezeit und Alter als Tableau opernhaft sinnbildlich zusammentreten. Ein wunderbares Bild. Die ebenfalls ins Bild tretende Cho Cho San aus „Madama Butterfly“ ist sowohl verblüffende Bühnenverkörperung der Sängerin Emilia Marty als auch Reverenz an die von Janáček viel bewunderte Puccini-Figur. Kurz vor ihrem Tod schleppt sich Emilia zusammenbrechend im rosa Unterrock, nahezu kahlhäuptig, sichtlich gealtert zum geöffneten Fenster. Zuvor hat sie Krista das endlich wieder gefundene Rezept des Unsterblichkeitselixiers geschenkt, das diese sofort verbrennt. Zeitgleich verübt Cho Cho San im Hotelfahrstuhl Harakiri. Ein ins Endlose verlängertes Leben hat keinen Sinn.

Diese Erkenntnis Emilia Martys zeigt Guth in hin und her fahrenden Räumen. Realität und Traum, konkrete Örtlichkeiten und ortloser weißer Seelenraum mit verschwimmenden Konturen im Nebel wechseln sich ab. Es ist eine suggestive, einleuchtend kluge und überzeugende Inszenierung dieser Metaoper mit einer Sängerin, die eine Sängerin spielt. Das Premierenpublikum feierte die Produktion frenetisch, zumal die Sängerbesetzung kaum besser hätte sein können: Marlis Petersen gibt ihr Rollendebüt als Emilia Marty: eine geradezu paradebeispielhafte, stimmlich wie schauspielerische Verkörperung der magisch anziehenden wie abstoßend kalten Mischung aus Femme fatale, Dame, besoffener Hure, eitler Primadonna, coolem Vamp und zartfühlender Frau. Die Petersen hat nicht nur eine „schöne“ Stimme, sie ist auch eine grandiose Darstellerin der lebensüberdrüssigen „Unterkühlten“, wie Janáček seine Titelfigur nannte. Aber auch Ludovit Ludha (Albert Gregor), Peter Hoare (Vítek), die außerordentlich wohltönende polnische Mezzosopranistin Natalia Skrycka (Krista), Bo Skovhus (Jaroslav Prus), Spencer Britten (Janek), Jan Martiník (Dr. Kolenatý), Žilvinas Miškinis (Maschinist), Adriane Queiroz (Putzfrau), Graham Clark (Hauk-Šendorf) und Anna Kissjudit (Kammerzofe) lassen keinen Wunsch offen.

Ein Wermutstropfen der insgesamt phänomenalen Aufführung ist Sir Simon Rattles unsensible Lesart der Partitur mit der bestens disponierten Staatskapelle Berlin. Das war doch, mit Verlaub gesagt, ein Janáček im Hochformat, viel zu laut, viel zu dick aufgetragene Farbklänge wie Emotionen, zu sehr vom rhythmischen Puls eines Strawinsky und einem romantischen Verständnis à la Puccini beseelt. Da hat zuletzt Jakub Hrůša in Zürich doch eine wesentlich differenziertere, subtilere Interpretation der grandiosen Musik Janáčeks dirigiert. Rattles Lesart hingegen war grell, lärmend und plakativ. Er agierte atemlos am Pult, immer mit Volldampf. Das strafte nicht nur die Poesie des Werks, auch die Poesie der Inszenierung Guths Lügen – schade!

Dennoch: ein großer Abend!

Dieter David Scholz

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