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Das Publikum ist nie schuld

Bernd Feuchtner im Gespräch mit Barbara Haack

Eine Studie des Musikinformationszentrums des Deutschen Musikrats (MIZ) zeigt, dass in den letzten fünf Spielzeiten vor Corona in 80 deutschen Opernhäusern 860 Opern von 457 Komponistinnen und Komponisten gespielt wurden. Allerdings findet man nur ungefähr 20 „Blockbuster“ davon regelmäßig in den Spielplänen. Nach Angaben des Deutschen Bühnenvereins besuchten in der Spielzeit 2018/2019 3,7 Millionen Menschen im deutschsprachigen Raum Opernaufführungen. Die zehn meistgespielten Komponisten beanspruchten 70 Prozent des Spielplans. Nur vier Prozent des Opernprogramms waren Uraufführungen, die nur zwei Prozent der Zuschauer erreichten. Zwar steigt die Zahl der Uraufführungen stetig, doch die Zahl derjenigen, die neue Stücke sehen, sinkt drastisch. In der Mehrzahl wird nur noch für ein Spezialistenpub-
likum produziert.

Plakat des Musikinformationszentrums „Opernbesuche“

Plakat des Musikinformationszentrums „Opernbesuche“

Zusammengefasst hat diese und weitere Erkenntnisse Bernd Feuchtner in einem Artikel der neuen musikzeitung (nmz, Ausg. 11/2021). Feuchtner war zehn Jahre lang Operndirektor und Chefdramaturg in Heidelberg, Salzburg und Karlsruhe. Außerdem gründete und leitete er das Barockfest Winter in Schwetzingen und war Künstlerischer Leiter der Händel-Festspiele Karlsruhe. Davor war er Musik- und Tanzjournalist, unter anderem als Redakteur beim Tagesspiegel und der Opernwelt. Heute lebt Feuchtner als freier Autor in Berlin. Barbara Haack sprach mit ihm über seine Sicht auf den heutigen Opernbetrieb und das Opernrepertoire.

Oper und Tanz: In der nmz schreiben Sie, dass sich unter den 860 Opern, die in den letzten fünf Spielzeiten vor Corona gespielt wurden, nur 20 Blockbuster herausgebildet haben, die ins Repertoire aufgenommen werden. Woran liegt das? Gibt es keine guten neuen Opern?

Bernd Feuchtner: Es gibt wunderbare neue Opern, nur werden die nicht wahrgenommen. Das liegt an Vorurteilen. Man kann geschichtlich ganz weit ausholen und sagen, dass Hitler 1933 alle begabten Leute rausgeschmissen oder umgebracht hat. Danach war die Welt wirklich anders: 1945 hatte man das Gefühl, man brauche einen Neuanfang, hat aber in Mitteleuropa vergessen, was für ein Reichtum im ersten Drittel des Jahrhunderts entstanden war. Es wurde keine Repertoirebildung mehr betrieben. Die Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg gab es aus gutem Grund, aber für das breite Publikum brauchte man auch noch etwas anderes. Da sind viele Opern entstanden. Bis in die 1960/70er-Jahre wurden sie auch beispielsweise in Berlin, München oder Hamburg uraufgeführt. Es gibt da hervorragende Komponisten, die aber alle nicht mehr gespielt werden. Henze oder Reimann schreiben ja auch Musik, die absolut zugänglich ist und das Publikum begeistern könnte. Aber auch die wird ganz selten gespielt. Dazu kommt die Arroganz, dass wir nur Sachen aus Mitteleuropa spielen. US-amerikanische Musik muss offenbar kommerziell sein: Wie schrecklich, wenn 4.000 Menschen in der Metropolitan Oper „The Death of Klinghoffer“ von John Adams sehen wollen – das kann ja nichts taugen!

O&T: Sind Sie sicher, dass ein Theaterbesucher, der gerne Puccini oder Mozart hört, ohne in irgendeiner Form angeleitet zu werden, auch Henze mag?

Feuchtner: Das hängt davon ab, was man ihm vorsetzt, und wie. Wenn er die neue Oper von Henze gar nicht kennenlernt, dann kann er sich auch keine Meinung darüber bilden. „Die Bassariden“ war kürzlich in der Komischen Oper ein großer Erfolg, weil tolle Sänger und Musiker zusammen mit einer klugen Regie die Wahrheit daraus hervorgekitzelt haben. Warum hat es in Berlin zum Beispiel noch nie eine Oper von John Adams gegeben? Dort, wo sie gespielt wurde, in Stuttgart, war „Nixon in China“ ein großer Erfolg. Auch die Opern von Philip Glass können Sogwirkung entfalten. Aber nein, man erklärt das für schlechte Musik und enthält sie dem unmündigen Publikum vor. In Karlsruhe haben wir mit Stücken wie „Wallenberg“, „Doctor Atomic“, „Die Passagierin“ oder „Romeo und Julia auf dem Dorfe“, „Verlobung im Traum“ und so weiter Begeisterung geweckt.

Webern hat einfach nicht recht gehabt mit der Annahme, dass der Postbote seine Melodien in 50 Jahren auf dem Fahrrad pfeifen würde.

O&T: Hat das damit zu tun, dass Neue Musik nicht schön sein darf?

Feuchtner: Genau: Es gibt dieses Klischee, dass es „wehtun“ muss. Man liest das ja immer wieder in Kritiken. Ich bitte Sie: Die „Neue Musik“ ist über ein Jahrhundert alt, was wir brauchen, ist neue Musik. Wir haben zum Beispiel in Heidelberg die japanische Oper „Ai-en“ von Miki Minoru gemacht, die 2006 in Tokio uraufgeführt worden war: ein großer Publikumserfolg. Oder von dem Mexikaner Daniel Catán „Florencia en el Amazonas“ von 1996. Ja, auch die Lateinamerikaner und die Japaner können es, aber hier wird es nicht zugelassen. Stattdessen wird gesagt: „So kann man doch heute nicht komponieren – das ist ja tonal!“ Es ist aber nicht einfach nur tonal, sondern eine neue Weise, mit dem alten Material umzugehen. Webern hat einfach nicht recht gehabt mit der Annahme, dass der Postbote seine Melodien in 50 Jahren auf dem Fahrrad pfeifen würde. Er tut es nicht. Die Leute hören in der westlichen Welt nach wie vor tonale Musik in unendlichen Massen. André Rieu füllt Fußballstadien damit. Das heißt doch, dass es aufseiten der Leute eine Sehnsucht danach gibt, solche Musik zu hören.

O&T: Sie haben von der Arroganz gesprochen derjenigen, die Programme machen und anderes belächeln. Liegen die falsch?

Feuchtner: Es wird ja immer das gespielt, was der Auftraggeber will. In der demokratischen Gesellschaft ist dieser Auftraggeber eigentlich das Publikum. In der Feudalzeit war es der Fürst, später dann intelligente Kulturdezernenten, die bei den Theatern entsprechend kompetente Intendanten bestellt haben. Zum Beispiel Hermann Glaser in Nürnberg oder Hilmar Hoffmann in Frankfurt. Heute gibt es diese Politiker nicht mehr, deswegen haben das die Intellektuellen übernommen, als Dramaturgen in den Theatern, in den Redaktionen und Hochschulen. Diese Menschen wollen anscheinend lieber basteln.

Schon, wenn ich als Musikbegeisterter Komposition studieren will, wird von mir an der Musikhochschule Mainstream-Modernismus verlangt. Wenn ich etwas für ein größeres Publikum machen will, habe ich wenig Chancen. Jemand wie Anno Schreier hatte dennoch bei Wolfgang Rihm Glück, und jetzt schreibt er erfolgreich Musik, die auch aufgeführt wird. Leider nicht überall.

O&T: Nochmal die Frage: Wie kann man jemanden, der mit seiner Opernliebe im 18. oder 19. Jahrhundert stehen geblieben ist, dazu bringen, auch neuere Opern zu lieben?

Feuchtner: Das ist immer dann gelungen, wenn es eine gute Inszenierung gab. Zum Beispiel die „Soldaten“ von Zimmermann – die tolle Inszenierung in Köln war ausverkauft. Es muss ja nicht jedem alles gefallen, wir brauchen eine Bandbreite! Das Publikum setzt sich aus vielen unterschiedlichen Teilen zusammen. Wir brauchen die Theater dringend als Orte, wo sich so etwas wie Gesellschaft überhaupt bilden kann. Wo viele Menschen sich begegnen, miteinander reden und Gemeinschaftserlebnisse haben.

O&T: Sind Intendanten zu ängstlich, weil sie oft die etwas schwierigeren Wege meiden?

Feuchtner: Ja, das glaube ich, und Angst ist noch nie ein guter Ratgeber gewesen. Nur wer Risiken eingeht, wird etwas erreichen. Ich glaube, dass sie einfach nicht schauen, was sich tut, dass sie keinen Überblick haben. Vor allem kennen sie diejenigen guten Werke nicht, die nicht schwierig sind! Sie rennen Trends hinterher, anstatt die Trends selber zu setzen. Da gibt es wirklich nur ganz wenige Ausnahmen.

O&T: Aber es gibt Ausnahmen?

Feuchtner: Ja, natürlich, jemand wie Bernd Loebe in Frankfurt zum Beispiel. Der hat es geschafft, das Haus mit einem sehr diversen Programm vollzukriegen. Er macht alles, von der krachmodernen Uraufführung bis zur Barockoper. Gerade der Boom der Barockoper zeigt ja, dass das Publikum etwas Neues sehen, aber nicht unbedingt Neue Musik hören will.

O&T: Nein, es geht auch um Werke, die wiederentdeckt werden, was auch nicht oft genug passiert. Gehört auch da Mut dazu?

Feuchtner: Ja. Gerade ist in Magdeburg „Grete Minde“ von Eugen Engel sogar erst entdeckt worden. Aber wo sind die Journalisten alle hingerannt? Zu Simon Rattle nach Berlin in die Staatsoper. Die Journalisten tragen zu dem Problem ihren Teil bei. Es ist typisch: Alle wollen immer dahin, wo alle hinwollen. Und das sind natürlich die Starregisseure an den großen Häusern.

O&T: Dabei sind es ja oft die kleineren Häuser, die mutiger sind und Dinge wiederentdecken oder Neues bringen. Und dann auch häufig mit Erfolg.

Feuchtner: Aber man muss es beständig machen. Man muss als Intendantin oder Intendant das Vertrauen gewinnen, zeigen, dass man einen guten Geschmack und Stilgefühl hat. Dann muss man jedes Jahr eine neue Oper nachspielen, die man selbst toll findet. Aber die Mühe, danach zu suchen, macht man sich nicht.

O&T: Dieses „Nachspielen“ von Uraufführungen ist offenbar schwierig. Woran liegt das aus Ihrer Sicht?

Barockoper an der Oper Frankfurt: „Amadigi“ von Georg Friedrich Händel mit Brennan Hall als Amadigi. Foto: Barbara Aumüller

Barockoper an der Oper Frankfurt: „Amadigi“ von Georg Friedrich Händel mit Brennan Hall als Amadigi. Foto: Barbara Aumüller

Feuchtner: Es liegt vor allem daran, dass sie gar nicht erst reinkommen in das Repertoire. Früher war es doch so: Wenn Verdi oder auch Schreker eine neue Oper geschrieben hatten, wurde die überall nachgespielt. Kurt Weill hatte Uraufführungen in zwei Städten gleichzeitig, Kreneks „Jonny spielt auf“ verbreitete sich rasant auch über internationale Bühnen. Dadurch konnte sich das Publikum in der jeweiligen Stadt einen Überblick verschaffen. Diesen Überblick hat es heute nicht. Wir können gerade noch von den Rundfunkanstalten erwarten, dass sie einiges senden. Aber im Fernsehen kommt gar nichts mehr in dieser Richtung, das ist völlig auf Mainstream eingestimmt und hat inzwischen die Qualität von Klassikradio. Die rennen Stars hinterher und fordern das Publikum nicht. Ich werde aber scheitern, wenn ich das Publikum unterfordere, weil es dann das Interesse verliert. Dann wundern sich die Intendanten/-innen, dass ihr Theater immer leerer wird.

O&T: Ist das Fernsehen das richtige Medium, um eine zeitgenössische Oper zu transportieren?

Feuchtner: Gute Aufführungen kann das Fernsehen auf jeden Fall transportieren. Das hat sich in der Vergangenheit immer wieder gezeigt. Auch, weil nicht jeder die Möglichkeit hat, zu reisen.

O&T: Das ist natürlich gerade in Zeiten von Corona eine Chance, um diese Musik zu vermitteln…

Feuchtner: Einige Opernhäuser haben das auch genutzt, aber die Mehrzahl hat Corona einfach verschlafen. Sie haben nichts getan, was dem Publikum den Eindruck einer Wachheit gegeben hat. Sie haben sich zu schnell der Politik untergeordnet. In Mecklenburg-Vorpommern haben sie in diesem Winter die Theater sogar ganz geschlossen, als hätten die nicht schon genug Probleme. Dabei haben gerade Theater doch jede Menge Möglichkeiten, Krach zu machen. Ich hätte vom Theater erwartet, dass es auf die Straße geht. Dass die Kapelle vor dem Haus der Ministerpräsidentin aufspielt und sagt: „Wir sind da und wir wollen spielen.“ Das ist aber nicht passiert. Manche haben sich für Streaming entschieden, das hatte zum Teil gute Effekte. Andere haben eigene Formate entwickelt, das heißt Videoopern oder Videoperformances, die speziell für das Medium gemacht waren. Aber das war eine kleine Minderheit. Die Mehrzahl ist einfach in Schockstarre verharrt.

O&T: Das hängt natürlich auch mit Geld zusammen. Wenn es keine Einnahmen gibt, wird es schwierig.

Feuchtner: (lacht) Die haben doch gespart! Die haben Geld gehortet!

O&T: Sie haben ein Buch veröffentlicht, „Die Oper des 20. Jahrhunderts in hundert Meisterwerken“, und dafür 100 Meisterwerke chronologisch beschrieben. Was waren Ihre Kriterien bei der Auswahl?

Feuchtner: Mein Kriterium war einzig und allein mein eigener Geschmack; anders kann man da nicht vorgehen. Es gibt eine solche Fülle! Ich habe auch versucht, aus der Sicht der Oper die Geschichte des 20. Jahrhunderts nachzuzeichnen. Einen Kanon habe ich nicht aufgestellt, und ich sage auch nicht, dass es die 100 besten Musikstücke sind. Von denen, die ich kenne, sind es die, die ich am bemerkenswertesten finde. Und es sollten 100 verschiedene Komponisten sein!

O&T: In Ihrem Vorwort weisen Sie darauf hin, dass Opern auch ein Produkt ihrer gesellschaftlichen und politischen Umgebung sind. War es, zumindest teilweise, ein Erfolgsfaktor der Komponisten, dass das, was sie geschrieben haben, in die Zeit passte?

Feuchtner: Das, was in die aktuelle Zeit passt, passt nicht unbedingt auch noch in spätere Zeiten. Spätere Generationen wählen anders aus. Wir haben heute allerdings einen Zugriff, wie es ihn in der Geschichte nie zuvor gegeben hat. Wir haben so viele Aufnahmen und Notenausgaben von Werken, die aus der Vergangenheit wieder herausgezogen worden sind! Aber nicht alles davon ist Gold.

O&T: Sie verweisen auch auf eine Aussage von Gerard Mortier, im 20. Jahrhundert habe es mehr Meisterwerke gegeben als im 19. Jahrhundert. Sehen Sie das auch so?

Feuchtner: Ja, das sehe ich unbedingt so! Es wurden im 19. und 20. Jahrhundert mehr und größere Opernhäuser gebaut. Wir haben von chinesischer über australischer bis zu lateinamerikanischer Oper so vieles im 20. Jahrhundert! Dieser Reichtum wird hier nicht ausgeschöpft und nicht weitergeführt.

O&T: Gerade haben wir über die neuen Opern von heute gesprochen, die es nicht ins Repertoire schaffen. Wenn man sich die von Ihnen aufgeführten 100 Meisterwerke anschaut, wird deutlich, dass es ein paar von ihnen eindeutig geschafft haben, viele aber auch nicht. Ist der Erfolgsfaktor ausschließlich die Qualität, oder gibt es da noch andere Kriterien?

Feuchtner: Es gibt kein anderes Kriterium als die Qualität. Ich kann das Publikum nicht an der Nase herumführen. Und es interessiert sich für die Musik, nicht für den Text! Die meisten Intendanten gehen ja davon aus, dass die Story interessant sein muss. Viele Intendanten sind einfach gelangweilt von Oper und denken, immer müsse es ein toller Text sein und man müsse in den Übertiteln alles komplett wiedergeben. Aber damit töten sie bei ihrem Publikum die Fantasie und die Fähigkeit, Musik zu hören. Ursprünglich hat mir die Musik die Geschichte erzählt. Heute lachen die Leute, wenn sie einen Witz in den Übertiteln lesen, aber sie hören nicht mehr, welchen Witz die Musik gerade macht. Bei „Makropulos“ von Janácˇek in der Staatsoper hing das Publikum nur an diesen Übertiteln, die ständig die Textdichte von Janácˇek abgebildet haben. Dabei guckt man dann nur noch mit einem halben Auge hin, was auf der Bühne vor sich geht. Dadurch schafft die Oper sich ab: indem sie die Fähigkeit des Pub-
likums ruiniert, sich von der Musik bezaubern zu lassen.

O&T: Gehen große und kleine Häuser unterschiedlich mit den Themen Repertoire und Zeitgenössisches um?

Feuchtner: Die Probleme in großen, mittleren und kleinen Häusern sind tatsächlich unterschiedlich. Nur der Egoismus der Intendanten ist überall der gleiche. Die kleinen Häuser versuchen sich dann oft mit Musicals zu retten, aber das ist eine andere Gattung. Das braucht einen anderen Gesangsstil, eine andere Art Musik zu spielen, und wenn das mit schweren Opernstimmen gemacht wird, funktioniert es nicht gut. Ich sage: Entdeckt die Schätze der Operette!

O&T: Der ein oder andere Intendant wird Ihnen erwidern, dass man mit den Einnahmen aus diesem Musical dann auch mal einen Kompositionsauftrag finanzieren oder riskieren kann, dass die Oper nicht immer voll wird.

Feuchtner: Da sind wir wieder bei der Frage des Geschmacks. Der/die Intendant/-in sollte genügend Geschmack haben, um ein Stück auszuwählen, mit dem er/sie sein oder ihr Haus voll bekommt. Das ist auch der Vorteil vom Nachspielen: nicht nur, dass man damit Repertoirepflege betreibt, sondern dass man es auch schon gesehen hat. Man weiß, dass es ein gutes Stück ist. Wenn das Publikum weiß, dass jedes Jahr die tollste neue Oper nachgespielt wird, geht es auch mit. Für Henzes „Phaedra“ fanden Daniel Cremer und Ben Baur bei der Zweitaufführung in Heidelberg endlich eine passende Form.

O&T: Viele Intendanten haben dafür gar keine Zeit, weil sie so oft das Haus wechseln, dass sie das Vertrauen des Publikums gar nicht erst aufbauen können.

Feuchtner: Dann läuft etwas falsch. Es ist nun mal so: Der Fisch stinkt vom Kopf. Statt als primus inter pares im Team zu arbeiten, wollen sie die ganze Macht, also tragen sie auch die ganze Verantwortung für den Publikumsschwund.

O&T: Was muss passieren?

Feuchtner: Ich habe André Rieu erwähnt. Man sagt immer, das Publikum habe keinen Geschmack. Es komme nicht, weil es die komplizierten neuen Sachen nicht mag. Aber das Publikum ist nie schuld. Das Publikum ist der Auftraggeber, und ich muss für das Publikum spielen. Es gibt eben nicht nur ein Publikum, sondern mehrere. Die Arbeit zu überlegen, an welchem Ort ich bin, welche Art von Leuten es dort gibt, was bei ihnen gut ankommt, was ihnen gefallen könnte, muss man sich machen. Wenn niemand ins Theater kommt, dann hat das Theater das falsche Angebot.

O&T: Das klingt so, als ob André Rieu auch seine Berechtigung hätte?

Feuchtner: Selbstverständlich, wenn das Publikum dort hingeht. Aber das Theater muss den Anspruch haben, nicht das Surrogat zu bieten, sondern das Echte. Wenn das Publikum aber den Eindruck hat, im Theater bekomme es nicht mehr das Echte, dann rennt es zum Surrogat. Wobei nicht alles, was André Rieu macht, Surrogat ist.

O&T: Da ergibt sich allerdings ein gewisser Widerspruch: Auf der einen Seite soll man das machen, was das Publikum will, auf der anderen Seite soll man das Publikum heranziehen, damit es etwas anderes will.

Feuchtner: Ja – das ist Dialektik. Die Welt ist voller Widersprüche, die wir meistern müssen.

 

 

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