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Berichte
Brutales Elend der
Kriegsrealität
Münchner Erstaufführung von Prokofjews „Krieg und Frieden“
Die Seiten füllende Fassungs- und Aufführungsgeschichte beiseitegelassen: Lange und leider brandaktuell leuchtete vor aller Musik eine Tolstoi-Aburteilung allen Krieges in den dunklen Zuschauerraum. Durch nur eine Pause geteilt, überzeugte dann der dramaturgische Bogen (Dramaturg Malte Krasting, Mitarbeit Analena Weres) mit dreieinhalb Stunden Musikdauer und einem gezielt „anderen“ Schlusseffekt. Die Streichung einiger Konversationsszenen und „stalinistisch“ erwünschter Chorpartien wirkte dramaturgisch klug, nicht „beschönigend“ und verstärkte die zentrale humanistische Stoßwirkung erfreulich: Auch wenn ein Titel wie „Liebe in Zeiten…“ abgenutzt ist, „Privatheit“, „Individualität“ und „Überleben“ wurden als ebenso beschädigt oder gefährdet vorgeführt – egal, welches Volk derzeit unter einem Krieg leidet.
Foto: Wilfried Hösl
Diese durch Extrachor selten so zu sehende Ballung des Staatsopernchores überwältigte, abge_stuft aus der leisen, fast individuell wirkenden Klage bis ins anklagende Fortissimo einer tosenden „Volksmasse“ – Einstudierung: David Cavelius – vom Kleinkind bis zum Greis mitspielend, mal als Kleingruppe im Saal, mal in Frontal-Konfrontation zum Publikum. Das zu befürchtende „szenische Korsett“ mit einem Einheitsbühnenbild für russische Adelswelt, Privatschicksale, Weltpolitik und letztlich Weltkrieg erwies sich als „szenischer Wurf“: Regisseur Dmitri Tscherniakov (russischstämmig ebenso wie GMD Vladimir Jurowski) hat als sein eigener Bühnenbildner den edlen, lüster-glänzend lack-hellen Saal des Moskauer „Hauses der Gewerkschaften“ als Einheitsraum bühnengroß nachbauen lassen – Ort von zaristischen Bällen über stalinistische Schauprozesse bis zu Politiker-Aufbahrungen – und zeigt diesen geschichtsträchtigen Saal als heutiges Flüchtlingslager, alles Geschehen verdichtend und alles Gezeigte erschreckend aktuell: fast durchweg armselige Bekleidung, ein paar reiche Damen mit guten Kleidern und Pelzen (Kostüme: Elena Zaytseva), Matratzen, Feldbetten, Decken und Fetzen, Reste einstiger Bestuhlung. Darin spielen Kinder, aber auch die entwurzelten Erwachsenen mal „Ball mit Polonaise“, mal Gaudi mit Kunststückchen und Tänzchen – eben Flucht aus der sichtbar gemachten Kriegstristesse inmitten von glänzenden Säulen, großen Spiegeln und Glastüren. Marodierende Soldateska und „Partisanen“ dringen ein. Wahllos werden Menschen erschossen. „Napoleon 1812“ wird als Groteske gespielt. Huren, „Irre“ und „Retter“ treten auf. Doch das stille wie laute wie brutale Elend aller Kriegsrealität ist dauerpräsent: eine Inszenierung ohne Mätzchen oder Verstiegenheiten – belohnt mit einem Bravo-Sturm, zu dem sich Tscherniakov sichtlich gerührt verneigte.
Davor am Schluss ein losbrechender frenetischer Jubelsturm für GMD Vladimir Jurowski, den er sofort ins Staatsorchester und dann weiter über das gesamte, ihm erkennbar begeistert applaudierende Bühnenensemble lenkte. Seine hochkonzentrierte, mal beflügelnde, mal dämpfende Energieleistung bis zum Schluss-Blackout war auch im Parkett nachvollziehbar; seine differenzierte Zeichengebung bis in Einzelstimmen hinein war bis zum Ende spannend zu beobachten – und zu hören: ein großer Abend des Staatsorchesters im Graben und mehrfach auf der Bühne. Prokofjew war als beeindruckend vielfältiger Musikdramatiker zu erleben: Er hat lärmende Kriegs- und Kriegsangst-Musik komponiert, den Konversationston der Adeligen und die zum Verstummen neigende Verzweiflung der nach einem Lebenssinn suchenden Menschen gestaltet; in schönem Kontrast blühen die Emotionen um das Liebespaar vokal wie orchestral – und das von Flöte und Streichern ins Verlöschen begleitete Sterben des liebenden Andrej rührt an. Ebenso Jurowskis Final-Entscheidung: Da durfte zwar Marschall Kutusow im Guerilla-Kostüm die Rettung Russlands verkünden – doch statt des Jubelchores war eine große Blechbläserkapelle angetreten, abstrahierte klanglich vom gestrichenen, patriotischen Text und beschwor dennoch den fragwürdigen Sound aller Militärfeiern – gelungene dialektische Umdeutung – und wurde durch den abrupten finalen Blackout um alle falsche Aura gebracht.
Chor und Extrachor der Bayerischen Staatsoper. Foto: Wilfried Hösl
Und dann auch noch vokales Glück: ein über 40-köpfiges Gesangsensemble ohne Schwächen – vom erfahrenen Sergei Leiferkus (Fürst Bolkonski) über Violetta Urmana (die Haltung bewahrende Marja), den Rollendebütanten Bekhzod Davronov (der schmierig-eitle Heiratsbetrüger Anatol) bis zum müden Kutusow vom Bass-gewaltigen Dmitry Ulyanovs. Olga Kulchynska machte mit süßen Sopran-Lyrismen die verführbare Liebes- und Lebenssehnsucht Nataschas so glaubhaft, dass man die singuläre Audrey Hepburn aus der Verfilmung fast vergessen konnte; Andrej Zhilikhovsky war mit seiner blendenden Bühnenerscheinung und seinem virilen hellen Bariton ein hinreißender Andrej – bewegend kontrastiert vom einen Lebenssinn suchenden, an seiner eigenen Humanität mehrfach verzweifelnden Pierre, den Arsen Soghomonyan in eindringlichen Tenorphrasen beschwor. Das Elend aller versuchten Normalität inmitten solcher Entsetzlichkeiten, unausweichlich derzeit auch in so vielen Regionen unserer Welt, machte erst stumm – und dann konnte man mit Beifall und Bravo danken: für einen erschreckenden Widerschein aus einem Musiktheater-Spiegel. Ein künstlerisch großer, wuchtiger Abend zum siebzigsten Todestag des Komponisten und als Erstaufführung ein Markstein in der Münchner Operngeschichte.
Wolf-Dieter Peter
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