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Aktuelle Ausgabe

Editorial
Ansichten eines Boomers

Kulturpolitik

Brennpunkte
Zur Situation deutscher Theater und Orchester

Auf ein Wort mit...
... Laurent Hilaire, Ballettdirektor des Bayerischen Staatsballetts
Im Gespräch mit Barbara Haack

Ein komplexes Verhältnis
Freies Musiktheater „versus“ Opernhaus?

Den Menschen wieder eine Stimme geben
Das Projekt „Zukunft der Erinnerung“ am Staatstheater Augsburg

Ein Schritt in die Profi-Karriere
Opernstudios in Deutschland

Berichte

Zahnlose Groteske
Dmitri Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzesnk“ in Hamburg

Mittelalter mit KI und XR
Eine Live XR-Oper im Bonner Kunstmuseum

Im Ideenknäuel verheddert
„Die Zauberflöte“ am Kasseler Staatstheater

Brutales Elend der Kriegsrealität
Münchner Erstaufführung von Prokofjews „Krieg und Frieden“

Ein phänomenaler Chor
Meyerbeers „Die Hugenotten“ als Grossprojekt von Genf und Mannheim

Mit der Liebe spielt man nicht
„Così fan tutte“ an der Komischen Oper Berlin

Auf der Suche nach Heimat
„SHOWCASE VI: HoME“ von Yaron Shamir im Theater Chemnitz

Wie ein Mythos versinkt
Das Musical „Titanic“ am Theater Osnabrück

1923: Bartók–Krenek–Toch–Weill
Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks.

Wagner: Der Ring des Nibelungen
Deutsche Oper Berlin, Donald Runnicles; Stefan Herheim

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VdO-Nachrichten
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Spielpläne 2022/2023

Kulturpolitik

Ein komplexes Verhältnis

Freies Musiktheater „versus“ Opernhaus?

Die Begriffe „Musiktheater“ und „Oper“ werden oft oppositionell verstanden, obwohl das Kompositum Musik+Theater eigentlich alle Erscheinungsweisen der seit 1600 bestehenden Gattung einschließt, von der Barockoper über Opera Seria, Buffo, Belcanto, Dramma giocoso, Grand opéra, Drame lyrique, Singspiel, Musikdrama bis zu Verismo, Zeit-, Jazz- und Literaturoper, Kurz- und Kammeroper, Radio- und Fernsehoper. Womöglich noch vielfältiger sind die Erscheinungsweisen dessen, was man „Musiktheater“ nennt und durch vorgeschaltete Adjektive zu differenzieren versucht. Das wahlweise neue, aktuelle, zeitgenössische oder experimentelle Musiktheater lässt sich weiter spezifizieren als episch, instrumental, postdramatisch, dekonstruktiv, konkret, performativ, partizipativ, inklusiv, urban, ökologisch, queer, feministisch, interkulturell, postkolonial, multi-, inter- und transmedial, digital, transdigital, hybrid, virtuell…

Im Förderprogramm „NOperas!“ schließen sich pro Spielzeit mehrere Bühnen zusammen, um experimentelles Musiktheater auf die Bühne zu bringen. „Kitesh“ in Bremen in der Spielzeit 2020/2021 Foto: Jörg Landsberg.

Im Förderprogramm „NOperas!“ schließen sich pro Spielzeit mehrere Bühnen zusammen, um experimentelles Musiktheater auf die Bühne zu bringen. „Kitesh“ in Bremen in der Spielzeit 2020/2021 Foto: Jörg Landsberg.

Seit den 1950er-Jahren entstanden freiberufliche Szenen von Jazz, improvisierter, neuer und elektronischer Musik sowie alter Musik in historisch informierter Aufführungspraxis. Diese Strömungen wären kaum möglich gewesen ohne Kooperationen mit etablierten Konzerthäusern, Festivals und Rundfunkanstalten. Im Bereich Musiktheater gibt es jedoch kaum Zusammenarbeit zwischen freien Kollektiven und festen Institutionen. Warum nicht? Schlummert hier nicht ein riesiges Potenzial? Doch das Zusammenspiel von Akteuren, Mitteln, Inhalten, Orten, Zeiten und Publikum ist hier wie dort so verschieden, als sei ein Bereich das Negativbild des anderen. Dieselbe Kluft herrscht auf Verbandsebene. Der Deutsche Bühnenverein repräsentiert die Stadt- und Staatstheater. Im Verein FREO haben sich dagegen die freien Ensembles und Orchester in Deutschland organisiert. Und nun formiert sich mit dem „Netzwerk Freies Musiktheater“ ein bundesweiter Interessenverband frei produzierter, innovativer Musiktheaterformen.

Institutionen

Die rund achtzig kleinen und großen Opernhäuser in Deutschland bestreiten ihre Spielzeiten – folgt man den höchsten Inszenierungs-, Aufführungs- und Publikumszahlen – zu schätzungsweise 90 Prozent mit zwanzig Werken von lediglich zehn Komponisten des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts (vgl. „Wer spielt was? Werkstatistik 2018/19“, Deutscher Bühnenverein, 72. Jg. 2020, S. 38f.). Dieses Kernrepertoire entfaltet entweder von sich aus Bedeutung in der Gegenwart oder bekommt sie durch Inszenierungen neu eingeschrieben. Das verengte Programm führt mit all seinen historischen Textbüchern, Partituren, Rollenbildern und Erzählungen zu standardisierten Arbeitsabläufen. Und selbst bei neuen Opern, die sich in der Gattungstradition bewegen, herrscht die übliche Vorgehensweise: erst Text, dann Komposition, schließlich Regie und alle Gewerke. Statt neues Musiktheater flexibel zu gestalten, wird es in die einst für die Oper geschaffenen alten Strukturen gepresst.

Die Sukzession der Arbeitsschritte mit langfristiger Planung und hierarchischer Organisation verhindert ko-kreative Prozesse und künstlerische Spontaneität. Aufwändige Bühnenbilder, Kostüme, Live- und Zuspielvideos lassen Änderungen an Inszenierungskonzepten kaum zu. Und obwohl die für traditionelle Oper geschulten Orchester und Ensembles mit erweiterten Spiel- und Vokaltechniken immer vertrauter werden, lassen sich besondere performative Anforderungen nur schwer umsetzen. Die Architektur der Opernhäuser mit Sitzreihen, Rängen, Orchestergraben und Guckkastenbühne folgt den Konventionen des 17. bis 19. Jahrhunderts. Das erschwert alternative Präsentationsweisen und verfestigt durch die einseitig fokussierte Wahrnehmung im Verbund mit dem verengten Kanon konservative Erwartungshaltungen. Und wenn doch einmal neues Musiktheater programmiert wird – laut Deutschem Bühnenverein vier Prozent Uraufführungen –, dann auf Studiobühnen vor kleinem Publikum mit geringer Ausstrahlung.

Die vielen Stadt- und Staatstheater hierzulande sind das Erbe von deutscher Kleinstaaterei, bürgerlicher Repräsentationskultur und Föderalismus. Bis heute binden sie die meisten kommunalen und staatlichen Finanzmittel für Musik. Zudem müssen gegenwärtig etliche Häuer saniert werden. Die 2022 begonnene Sanierung des Nationaltheaters Mannheim wird beispielsweise auf rund 300 Millionen Euro geschätzt. Die bereits seit 2012 laufende und noch immer nicht abgeschlossene Instandsetzung der Oper Köln samt Schauspielhaus kostet schätzungsweise 650 Millionen Euro. Den Abriss und Neubau von Schauspielhaus und Oper Frankfurt kalkuliert man mit rund 900 Millionen. Und die anstehende Generalsanierung samt Erweiterung des Württembergischen Staatstheaters Stuttgart taxiert man auf rund eine Milliarde.

Eigeninitiativen

Im Förderprogramm „NOperas!“ schließen sich pro Spielzeit mehrere Bühnen zusammen, um experimentelles Musiktheater auf die Bühne zu bringen. „Obsessions“ in Wuppertal Foto: Björn Hickmann.

Im Förderprogramm „NOperas!“ schließen sich pro Spielzeit mehrere Bühnen zusammen, um experimentelles Musiktheater auf die Bühne zu bringen. „Obsessions“ in Wuppertal Foto: Björn Hickmann.

Neben Hof-, Stadt- Volks- und Staatstheatern gab es immer auch privatwirtschaftliches Musik-, Tanz- und Sprechtheater. Während der 1920er-Jahre prägten solche Unternehmungen in Paris, Berlin und New York die neuen Gattungen Revue, Songspiel, Cabaret und Musical. Seit den 1960er-Jahren entstanden alternative Ausdrucks- und Darstellungsweisen jenseits etablierter Spielstätten, Praktiken und Repertoires. Seit den 2000er-Jahren gründeten sich vermehrt Ensembles, Vereine, Festivals und Veranstalter des freien Musiktheaters. Die Motive dafür sind sowohl ästhetisch, weil man eigene künstlerische Vorstellungen realisieren möchte, als auch pragmatisch, weil Kunst-, Theater- und Musikhochschulen längst mehr Absolventen hervorbringen, als es Festanstellungen gibt.

Freies Musiktheater ist in der Regel nicht an bestimmte Spielstätten und Formate gebunden. Es ist weitgehend unabhängig von gattungsspezifischen, stimmlichen und ästhetischen Dispositionen, kennt weder starre Dienstpläne und Tarifverträge noch steile Hierarchien von GMD, Intendant, Chefdramaturg, Inspizient und Leitungen von Bühnentechnik, Werkstätten, Verwaltung, Finanzen, Öffentlichkeitsarbeit. Stattdessen erfolgt die Arbeit häufig kollektiv. Die Mitwirkenden sind weniger ausführende Organe als kreativ Mitgestaltende. Die Resultate können deswegen eher von anfänglichen Zielsetzungen abweichen und flexibler auf aktuelle gesellschaftliche Diskurse und Ereignisse reagieren. Freien Produktionen gelingen daher leichter Anschluss­möglichkeiten an die reale Welt und Lebenswirklichkeit des Publikums.

Die aktive Freiheit zu mehr Eigenverantwortung und Gemeinsinn ist jedoch erkauft durch die passive Freiheit von auskömmlicher Bezahlung, professioneller Infrastruktur, hochwertigen Arbeitsmitteln und geeigneten Räumen für Entwicklung, Proben und Präsentation. Der Mangel an Geld, Personal, Technik, Zeit und Orten befördert eine „Do-it-yourself“-Ästhetik, die häufig zu originellen, zuweilen auch zu dilettantischen Lösungen führt. Dagegen sind an Opernhäusern speziell ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Gewerke zuständig. Weil freie Produktionen meist nur ein- oder zweimal an kleinen Off-Orten oder bei Spezialfestivals gezeigt werden, generieren sie wenig Einnahmen und Öffentlichkeit. Und sofern sie Nischenprodukte für ein Szenepublikum bleiben, marginalisieren sich auch die hier verhandelten gesellschaftspolitischen Themen. Dagegen erfahren Premieren an Stadt- und Staatstheatern breitere Resonanz, weil sie durch Werbung und Berichte medial präsenter sind, größeres Publikum erreichen und dadurch bei Politik, Kulturverwaltung, Stadtgesellschaft und Sponsoren stärkeren Rückhalt finden.

Kooperationen?

Auch die meisten freien Musiktheaterproduktionen arbeiten selbstverständlich professionell und zeigen auch Repertoire in unkonventionellen Lesarten. Umgekehrt produzieren die meisten Opernhäuser auch aufregende Neuinszenierungen des traditionellen Kanons sowie selten gespielte Opern bis hin zu Uraufführungen. Und trotz aller Ungleichheit teilen das freie und institutionelle Musiktheater viele genretypische Gemeinsamkeiten. Substanzielle Kooperationen, die über punktuelle Koproduktionen in Werkstatttheatern oder im Rahmen des Förderprogramms „NOperas!“ des Fonds Experimentelles Musiktheater hinausgehen, wären daher naheliegend. Zudem sollte man sich angesichts von wachsendem Legitimations- und Finanzdruck in diesem Bereich der wechselseitigen Solidarität versichern, statt sich durch neoliberale Forderungen nach Rentabilität, Kostenreduktion und Subventionsabbau gegeneinander ausspielen und in Neiddebatten verstricken zu lassen. Dafür aber braucht es mehr Kenntnis, Durchlässigkeit und Zusammenarbeit. Denn nur auf der Basis beidseitiger Wahrnehmung lassen sich Vorurteile überwinden, gemeinsame Interessen finden, Kooperationen entwickeln, weitere Publikumskreise ansprechen und der gesellschaftspolitische Rückhalt für Musiktheater und Oper stärken.

In den vergangenen Jahren haben sich drei regionale Zusammenschlüsse von Akteuren des freien Musiktheaters gegründet: das „Zentrum Musik­theater Berlin“ ZMB mit dem Festival „BAM!“, „Stimme X Zeitgenössisches Musiktheater Norddeutschland“ mit dem Hamburger Festival „49 Stunden Stimme X“ sowie die „Kölner Initiative Musiktheater“ KIM und das in Köln stattfindende Festival „SPARK!“. Ein erstes gemeinsames Treffen in Berlin Ende August 2022 diente primär dem Kennenlernen und Bilanzieren bereits bestehender Initiativen, Strukturen, Fördermöglichkeiten sowie dem Benennen von Problemen und Desideraten. Bei weiteren Treffen in Hamburg und Köln wurden genauere Zielsetzungen und Strategien entwickelt. Im Mai möchte man nun das bundesweite „Netzwerk Freies Musiktheater“ ins Leben rufen. Der sich basisdemokratisch verstehende Verband bietet allen Interessierten ein offenes Plenum, aus dem heraus Arbeitsgruppen für die zentralen inhaltlichen Aufgaben gebildet werden, die dann wiederum Sprecherinnen und Sprecher in einen übergeordneten Sprecher*innenkreis wählen. Zu diesem gehören auch drei vom Plenum direkt gewählte sowie drei Personen aus den bisherigen Landesvertretungen Köln, Hamburg und Berlin.

Einstweilen haben sich hier rund 150 Musiktheaterschaffende aus dem gesamten Bundesgebiet vernetzt. Davon beteiligen sich rund 30 aktiv an der Bildung des Verbands. Dessen Ziele sind: 1. die Sichtbarkeit und Reichweite des freien Musiktheaters in Deutschland erhöhen, 2. Interessen gegenüber Politik und Gesellschaft vertreten, 3. die Entwicklung innovativer, nachhaltiger und diskriminierungsfreier Produktionsformen, 4. die Theaterlandschaft diverser und inklusiver gestalten, 5. bestehende Verbindungen von Institutionen und freien Akteuren stärken, 6. neue Kooperationen anstreben und für höhere Gastspielquoten eintreten, 7. die praxisnahe Nachwuchsförderung an den Ausbildungseinrichtungen unterstützen und 8. den Austausch, Wissenstransfer und die Vernetzung zwischen den Akteuren innerhalb Deutschlands sowie mit der internationalen Szene initiieren und befördern. Damit sind wichtige Ziele formuliert. Im Mai konstituiert sich der Verband. Und danach fängt die Arbeit erst richtig an. Dann kommt hoffentlich Bewegung in die deutsche Musiktheaterlandschaft. Und vielleicht lässt sich dann an dieser Stelle schon bald über neue Strategien und Plattformen der Annäherung von freiem und institutionellem Musiktheater berichten.

Rainer Nonnenmann

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