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Berichte

Reise in den Irrsinn des Menschseins

Ballettpremiere in Nürnberg mit Mats Ek und Johan Inger · Von Vesna Mlakar

April 2012: Schweden-Premiere in Nürnberg. Das Theater profitiert von den guten Verbindungen des Nürnberger Ballettchefs Goyo Montero in die Tanzwelt. So konnte er nach Nacho Duatos musikalisch-abstrakter Formschwärmerei „Duende“ und Jirí Kyliáns frivol-virtuos-verspielten „Sechs Tänzen“ im Sommer 2011 nun die beiden Schweden Mats Ek – keine kleine Sensation, denn der Meister ist heikel und sorgsam bei der Vergabe von Stückrechten! – und seinen jüngeren Kollegen Johan Inger (seit 2009 Associate Choreographer des NDT) zur Übereignung und Einstudierung von zwei ihrer erfolgreichen Werke bewegen. Die Herausforderung klappte und katapultierte seine ohnehin schon tanzstarken Interpreten um viele Erfahrungsschritte weiter. Einzig der geplante eigene Uraufführungsbeitrag musste letztlich aufgrund Monteros Knieverletzung entfallen.

Johan Ingers  „Walking mad“. Foto: Bettina Stoess

Johan Ingers „Walking mad“. Foto: Bettina Stoess

Als Direktor trägt Montero große Verantwortung. „Nicht nur für mich, sondern auch für meine Kunst“, erklärt er im Gespräch. „Ensembles in aller Welt werden aufgelöst – immer ist die Sparte Tanz der erste Teil eines Theater, der gehen muss, wenn es finanzielle Schwierigkeiten gibt. Wir müssen für jedes Publikum etwas bieten – eine Compagnie muss in verschiedene Richtungen arbeiten. Ich versuche, unser Programm interessant zu gestalten: für die Zuschauer und für meine Tänzer!“

Anfang Oktober begann die Arbeit an dem neuen Ballettabend mit einem ersten Besuch von Mats Ek. Bescheiden schwärmte dieser: „Nürnberg ist für alles offen – (noch) nicht in einem Stil geprägt – mit einem Chefchoreografen, der sich in die Tänzerkörper einpflegt. Ich hatte Vertrauen, denn ich sehe eine Kapazität in Goyo und war schon zuvor – vor dieser Arbeit hier – an einem Austausch interessiert. Es ist schön, dass jemand es wirklich schafft, eine Leitung zu etablieren und dann auch dabei bleibt. Denn so etwas aufzubauen kostet viel und dauert lange. Ich bin froh, dass ich jetzt daran teilhaben kann. Welches Stück ich einer Compagnie anvertraue, hängt von verschiedenen Faktoren wie der Nachfrage, dem Potenzial der Tänzer, aber auch davon ab, wie oft ein Werk gespielt worden ist. „Bernarda Albas Haus“ zum Beispiel habe ich 15 Jahre lang nicht angefasst und es dann wieder in Düsseldorf, später Paris ausprobiert. „Carmen“, „Giselle“ oder „Schwanensee“ erfordern komplexe Charaktere. Zuletzt habe ich in Zürich, wo die Tänzer die Hauptrollen wirklich tragen konnten, „Dornröschen“ einstudiert.“

Kennengelernt haben sich Ek und Montero bereits vor Jahren bei einer Gala auf Kuba, wo Montero einen Pas de Deux kreiert hatte und Ek „da war, um mir das Moderne anzusehen.“ Eine Gegenüberstellung ihrer jeweils hoch imaginären, psychodramatisierenden und handwerklich ausgefeilten autarken Arbeitsweisen wäre sicher spannend gewesen, auch im Sinne einer Konterkarierung von Johan Ingers Tanzstück „Walking mad“ (Uraufführung 2001 beim NDT), das von seiner Inhaltlichkeit (der eigenwilligen Interpretation beziehungsweise Sicht auf Beziehungen – zwischen Partnern wie des Menschen zu sich selbst), szenischen Ausgestaltung (Bespiel-Element Wand) und sogar Körperlichkeit viele Ähnlichkeiten zu Eks „A sort of…“ aus dem Jahr 1997 (Uraufführung ebenfalls beim NDT) aufzeigt.

Andererseits fächert Inger (Leiter des Cullberg Ballet von 2003 bis 2008) zu Ravels „Bolero“ einen knapp halbstündigen Beziehungskosmos auf, der in drei Etappen sowohl lyrische Liebelei, mannstolles Partygetobe und – als bedrückenden choreografischen Höhepunkt – eine verängstigte, in die Ecke gesperrte und von verschiedenen Männern bedrängte Frau (Sophie Antoine) umfasst. Gewalt ist das Thema, wie auch die Verantwortung beziehungsweise Einsamkeit im gesellschaftlichen Beisammensein. Omnipräsente Leitfigur mit Mantel und Bowler ist Max Zacharisson, der sich im finalen Teil zu Arvo Pärts „Für Aline“ in ein berührendes Duett mit Julia Cortés verstrickt. Halten kann er die Liebe trotz einfühlsamer Zärtlichkeit nicht. Auch dies eine Klammer zu Eks Stück.

Als das Licht am Ende von „A sort of…“ über dem am Boden erschöpft und einsam zusammengekauerten Protagonisten erlischt, herrscht einen kurzen Moment Stille, bevor die Menschen im Staatstheater sich von den Eindrücken des gut 40-minütigen Panoptikums schrill-absurder Ereignisse und überraschender Stimmungsumbrüche losreißen und heftig zu applaudieren beginnen. Kommt Henryk Góreckis Musik auch vom Band, so entfaltet sich Eks erinnerungsgesteuerte Begegnung eines Mannes (Carlos Lázaro) mit einer regelrecht aus dem Publikum gefischten Frau (Marina Miguélez) im Nürnberger Opernhaus auf dem überdachten Orchestergraben – anders als in den weiten Dimensionen des Münchner Nationaltheaters und vor Jahren beim Bayerischen Staatsballett – intensiv in den Zuschauerraum hinein. Das intime Gebaren des Paares bis hin zum Einseifen des Kopfes mit einem Schuh springt den Betrachter an. Und zieht ihn mit, als der Mann in pinkem Mantel und mit Absätzen das Weib im gelbbraunen Anzug (Kostüme, die sie am Schluss vertauschen) einfach in einen Koffer packt und, durch ein Telegramm instruiert, zu einer (Alp-)Traum-Reise aufbricht.

Mats Eks „A sort of...“. Foto: Bettina Stoess

Bei der Herausarbeitung emotionaler Beziehungen zwischen den Protagonisten – ein weiteres Beispiel gibt das draufgängerisch junge Paar (Sajaka Kado und Sául Vega) – ist für Mats Ek Verfremdung eine wichtige Komponente: Alltagsbewegungen werden nicht etwa übernommen, sondern – manchmal scharf an der Grenze zwischen Tragik und Komik, Groteske und Sarkasmus – aus dem Kontext herausgelöst und einer neuen Bedeutung zugeführt. „Ich bin mir nicht immer hundertprozentig bewusst, was jede Bewegung bedeutet. Natürlich kenne ich die Musik und weiß, was ich haben möchte – begreife es intuitiv aber erst nach einer Weile oder wenn ich es auf meinem eigenen Körper aus- und mit den Tänzern dann weiter bearbeite. Es kostet mich inhaltlich, musikalisch und räumlich viele Vorbereitungen, damit ich dem Spiel freien Lauf lassen kann… Jeder Körper ist ja eine besondere, ganz komplexe Welt in sich. Die Ausstrahlung des Einzelnen kann man davon nicht trennen.“

Den Interpreten verlangt Ek dabei einen fast rastlosen Fluss spezifischer Bewegungsgefüge ab, was nur durch hohe Musikalität, Koordinationsfähigkeit und ein starkes Einfühlungsvermögen in die Rolle zu bewältigen ist. Kleine Zugeständnisse gibt es, weshalb jede Reprise anders aussieht, obwohl die Struktur dieselbe bleibt. Die Aufregung am Premierenabend, den strengen Augen des Choreografen zu genügen, ist den 16 Tänzern bei „A sort of…“ in ihrer jederzeit ernsthaften Sorgfalt anzumerken. Wodurch sie – technisch und konditionell herausragend – dem Stück ein wenig seiner grotesken Leichtigkeit raubten. Denn so bunt und burlesk das Treiben auch scheint, es geht mit einer Schwangeren, deren Ballonbauch mit einer Nadel zum Platzen gebracht wird oder einem Erhängten beim Kirchgang hart zur Sache.

Man kann eine Wiederaufnahme nur lebendig bekommen, wenn die Tänzer das Material genau kennen und zu ihrem eigenen machen.“ Was in Nürnberg zweifelsohne schon so gut wie passiert ist! Das Resultat ist eine Poesie des Unaussprechlichen beziehungsweise beredte Erzählung ohne Worte, deren Fundament, so Ek, „Bilder – innere Bilder, Momente, Stimmungen oder konkrete Aktionen sind.“ Der 1945 in Malmö geborene Sohn des Schauspielers Anders Ek und der Tänzerin Birgit Cullberg ist ein scharfer Beobachter. Er zerlegt seine Figuren bis auf die Quintessenz ihrer Charaktere und schält sie auf diese Weise aus ihrem gewöhnlichen Umfeld heraus, um sie dann erneut aufeinander loszulassen. „Ich muss mich mit meinen Gefühlen engagieren, um etwas Konkretes zu finden – sonst – ohne eine Situation oder Empfindung im Innern – bin ich völlig impotent als Choreograf.“ Woher aber kommt die Inspiration? „Dafür gibt es keine Regel, sondern – ich bin wie ein Schwein, ich fresse alles! Ganz egal, ob Bilder, Filme, Bücher oder etwas, was ich auf der Straße sehe.“ Der Prozess vom Aufnehmen der Eindrücke bis zu einer Verwandlung in Tanzsequenzen ist für den choreografisch innovativ rabiaten, im Gespräch konzentriert-nachdenklichen Schweden ein langer: „Ich muss Zeit haben, um etwas zu verdauen, mich wieder und wieder damit zu beschäftigen. Für ein abendfüllendes Ballett wie das, das im Frühjahr 2013 in Stockholm uraufgeführt wird, möchte ich zwei Jahre haben – was beim Cullberg-Ballett (dessen alleinige künstlerische Leitung Ek von 1985 bis 1993 innehatte) praktisch nicht möglich war. Dort musste ich oft schnell agieren.“

Was Ek auszeichnet, ist seine impulsive, dem Boden kraftvoll verhaftete choreo-
grafische Sprache, oft eckig mit einem Vokabular, das zwar auf der klassischen Technik basiert, insgesamt jedoch durch die unmittelbare Expressivität der Bewegungen, das dynamische Agieren der Oberkörper und die weit ausgreifenden Attitüden vor allem der Arme bei oftmals eingeknickten oder angewinkelten Beinen bestimmt wird: „Bewegung ist Sprache. Sie ist weder Ästhetik noch Dekoration, ebenso wenig eine Illustration der Musik, sondern eine eigenständige Ausdrucksweise.“ Was für ein Glück, dass man „Walking mad“ und die Facette „A sort of…“ von Ek neuerdings durch den Qualitätsgaranten Nürnberger Ballett erleben kann.

Vesna Mlakar

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