Zur Startseite


 

 
Zur Startseite von Oper & Tanz
Aktuelles Heft
Archiv & Suche
Stellenmarkt
Oper & Tanz abonnieren
Ihr Kontakt zu Oper und Tanz
Kontakt aufnehmen
Impressum
Datenschutzerklärung

Website der VdO


Kulturpolitik

Frischer Wind aus der Zivilgesellschaft

Henning Scherf über die Entwicklung des Chorsingens · Von Christian Tepe

Vor einigen Jahren konnte man noch den Eindruck gewinnen, gemeinsames Singen sei in Deutschland verpönt. In vielen Sonntagsgottesdiensten war aus dem durchaus noch gut besetzten Kirchenschiff zum Liedgesang nur noch genierliches, halbverständliches Gemurmel zu vernehmen. Jahrzehnte der Demontage des Musikunterrichts an den öffentlichen Schulen und der Tabuisierung des Singens hatten ganze Generationen verstummen lassen – und dies mit Billigung höchster musikphilosophischer Autorität: „Nirgends steht geschrieben, dass Singen not sei“, meinte einst Theodor W. Adorno. Das hat sich nun spürbar geändert. Immer mehr Menschen entdecken für sich den Chorgesang, überall entstehen neue Ensembles. Wenn Anfang Juni in Frankfurt der Deutsche Chorverband zum Sängerfest 2012 einlädt, werden fast 500 Chöre aus dem In- und Ausland die Finanzmetropole für vier Tage in die europäische Chorhauptstadt verwandeln. Über das Sängerfest und den Chorfrühling in Deutschland sprach Christian Tepe für „Oper & Tanz“ mit dem Präsidenten des Deutschen Chorverbandes, Henning Scherf.

Henning Scherf. Foto: Senatskanzlei Bremen

Henning Scherf. Foto: Senatskanzlei Bremen

Oper & Tanz: Herr Scherf, die Leser von „Oper & Tanz“, das sind besonders die professionellen Opernchorsänger und Bühnentänzer, kennen Sie aus Ihrer Zeit als Bremer Bürgermeister. Wie kam es zu Ihrem Engagement für den Deutschen Chorverband, dem Sie nun schon in der zweiten Amtsperiode dienen?
Henning Scherf: Vor gut sieben Jahren haben sich nach einem langen Streit der Deutsche Sängerbund und der Deutsche Allgemeine Sängerbund in einem gemeinsamen Chorverband zusammengeschlossen und sind dabei auf die Idee gekommen, dass ich ihr ers ter Präsident und Vorsitzender sein könnte. Seitdem ich dabei bin, ist meine Begeisterung für das Chorsingen wieder richtig entflammt. Ich singe selber im Bremer RathsChor und es ist für mich eine echte Entdeckung, welche Lebenshilfe es für Leute meines Alters sein kann, die große Chorliteratur singen zu dürfen.

O&T: Diese Erfahrung teilen in den letzten Jahren viele Menschen mit Ihnen. Wie erklären Sie sich die Renaissance des gemeinsamen Singens?
Scherf: Ja, wir sind wieder im Aufwind, am stärksten übrigens bei den inzwischen über 5.000 Kindergärten, die mit dem Deutschen Chorverband zusammenarbeiten und damit öffentlich werben, dass bei ihnen jeden Tag anspruchsvolles, auch mehrstimmiges Singen geübt wird. Eltern wählen gezielt solche Kindergärten aus, die durch unseren „Felix“ oder dessen Weiterentwicklung, den „Caruso“, ausgezeichnet wurden. Die Eltern erkennen, welche dramatische Gefahr es für die Kinder ist, wenn sie Tag für Tag nur vor dem Fernseher sitzen und konsumieren. Wer nicht mehr bemerkt, wie die eigene Stimme funktioniert und wie man zusammen mit anderen einen gemeinsamen Klang hinbekommt, der verkümmert, der kann am Schluss auch nicht mehr so richtig artikuliert sprechen. Die Fähigkeit gemeinsam vor einem Publikum zu singen, ist eine Kompetenz, die das öffentliche Reden, den sicheren Umgang mit anderen Menschen stützt. Und das gilt eben nicht nur für die Kleinen. Ich freue mich so, dass wir eine große Renaissance von Gesangsgruppen haben, in denen Jugendliche mehrstimmig singen; da können sie sich orientieren, da können sie sich ausprobieren, da haben sie Fans, die zu ihren Auftritten kommen. Ich beobachte das bei den Alten: Manche können nicht mehr so richtig reden, aber singen können sie. Quer durch die ganze Gesellschaft geht eine neue Begeisterung für das Mitmachen und für das Teilnehmen. Und das möchten wir gerne unterstützen. Auch die großen Musikverlage sind angetan von diesem neuen Interesse für Chormusik und kommen ständig mit neuen Ideen und Produkten auf den Markt. Im Juni setzen wir in Frankfurt wieder unser alle vier Jahre stattfindendes großes Chorfest ins Werk. Aus aller Welt haben sich fast 500 Chöre angemeldet. Wir rechnen mit zigtausend Teilnehmern und die Stadt macht begeistert mit. Selbst an so einem Ort wie Frankfurt, wo eigentlich nur Geschäfte gemacht werden, wo nur Geld verdient wird, hat das Singen seinen angemessenen Platz.

O&T: Das neue Interesse am gemeinsamen Singen unterscheidet sich grundlegend von der Egozentrik der Wellness-Kultur: Man muss regelmäßig zu den Proben kommen, sich einsetzen und persönlich einbringen. Kann man sagen, dass diese neue Faszination für die Chöre auch ein sozialpolitisches Moment hat, bei dem ein solidarischer Begriff von Gesellschaft durchschimmert?
Scherf: Ja, das ist mir aus der Seele gesprochen. Als zum Beispiel in Bremen unser Domkantor aus Altersgründen nicht mehr mit dem Domchor auftreten sollte, hat ein großer Teil der Chorleute gesagt: Dann machen wir das einfach selber. Nun organisieren und finanzieren wir das alles im Bremer RathsChor ohne Kirchensteuer und ohne Zuschüsse vom Staat. Wir nehmen alle Generationen mit. Die Jungen sollen bei uns nicht außen vor stehen und die Alten werden nicht rausgedrängt. Gerade die allein Gebliebenen, die Einsamen leben in so einer Chor-Alltagssituation auf. Jeder macht mit und keiner sagt: Wer bezahlt das alles?

O&T: Der Deutsche Chorverband setzt sich beharrlich für die Förderung des Singens im Kinder- und Jugendalter ein, indem er zum Beispiel Fortbildungskurse für Erzieherinnen und Erzieher anbietet. Verschaffen Sie damit dem Staat nicht ein Alibi, sich noch weiter aus seiner Verantwortung für die musische Bildung zurückzuziehen? Oder wird durch eine solche Initiative und tätige Bekundung des Bürgerwillens der Staat erst richtig unter Zugzwang gesetzt?
Scherf: Ja, genauso ist es. Wir sind eine mächtige Lobby! Wenn wir mit den Kindern, die schon im Kindergarten gesungen haben, in die Grundschulen kommen, fordern die natürlich Chöre ein und sagen: Warum wird hier nicht gesungen? Und die Eltern fragen: Warum gibt es hier keinen richtigen Gesangsunterricht? Wir wollen, dass jedes Kind in der Grundschule in einem Chor singt. Das ist unser Ehrgeiz. Die Kultur- und Schulpolitiker müssen begreifen: Hier gibt es einen großen Wunsch der Eltern und Kinder. Die Zeiten, als noch alles, was nicht leistungsorientiert und nicht direkt für den Arbeitsmarkt verwertbar ist, einfach weggedrängt werden konnte, gehören der Vergangenheit an. Auch in den Personalabteilungen schauen immer mehr Verantwortliche darauf, ob die Bewerber eine Sozialkompetenz mitbringen. Und diese Kompetenz, die bieten wir beim Chorsingen.

Auch junge Menschen haben wieder Freude am Singen. Hier die „Jazz Vocals“ in der „Nacht der Berliner Chöre“. Foto: Alexander Zuckrow

Auch junge Menschen haben wieder Freude am Singen. Hier die „Jazz Vocals“ in der „Nacht der Berliner Chöre“. Foto: Alexander Zuckrow

O&T: Als vor einigen Jahren aus der Kultusministerkonferenz der Länder der Vorschlag kam, die künftige Generation der Grundschullehrer nicht mehr in dem Fach Musik, sondern in einem neuen Studienfach Ästhetik auszubilden, haben Sie vehement Einspruch erhoben. Nach Untersuchungen des Verbandes Deutscher Schulmusiker werden inzwischen 70 bis 80 Prozent des Musikunterrichts an Grundschulen fachfremd oder gar nicht unterrichtet. Wie kann der Deutsche Chorverband einer solchen Verarmung entgegenwirken und den Staat wieder stärker in die Pflicht nehmen? Mit Resolutionen und Appellen scheint es nicht getan.
Scherf: Ich habe ja mein Leben lang in der Politik verbracht und weiß darum, wie wenig Resolutionen bewirken. Aber wir leben in einer schrumpfenden Gesellschaft und nicht nur die Kindergärten, auch die Schulen kämpfen um ihre Zukunft. Als Rektor muss man sich heute überlegen: Wie werbe ich für meine Schule, was macht meine Schule attraktiv, damit die Kinder mir nicht fortbleiben. Da wittere ich Chancen, da kann man sich verbünden und sagen: Wir möchten euch aufwerten und wir bringen etwas mit. Wir kommen mit Kindern, die singen wollen. Wir kommen mit Eltern, die motiviert sind, die euch unterstützen wollen. Und dann muss man mithelfen, dieser allgemeinen Resignation in der Bildungspolitik entgegenzuwirken. Wir sind nicht eine Konkurrenz für den Staat und schon gar kein Alibi, sondern mit ihm auf eine inhaltliche Weise verbunden. Gerade feiern wir das Jubiläum 800 Jahre Thomasschule und Thomanerchor. Und dieses Leipzig ist so begeistert von seinen Thomanern. Da stehen wirklich alle im Stadtrat hinter diesem Projekt. Ich bin vor ein paar Wochen bei der 327-jährigen Geburtstagsfeier von Bach in der Thomaskirche gewesen, da waren 1.500 Schulkinder aus Leipzig. Ich vermute, 1.400 von denen waren noch nie in der Kirche. Und dann haben sie gemeinsam einen Bach-Choral gesungen. Das hat mich so angerührt, wie die wunderbare Bach-Musik diese kirchenfernen, oft auch kulturfernen Kinder erreicht hat! So etwas ist möglich und ich glaube, das muss nicht nur in Leipzig so sein, das lässt sich quer durch das ganze deutsche Land verwirklichen.

O&T: Schauen wir noch auf eine andere Lebensphase. Es gibt in Ihrem Buch „Grau ist bunt“ eine sehr ergreifende Passage, in der Sie beschreiben, wie noch vor kurzem die älteren Sänger mit 60 Jahren aus dem Chor herauskomplimentiert wurden. In der gesamten Kunst- und Musikszene ist die Aufmerksamkeit nach wie vor stark auf die jüngere Generation fixiert, symptomatisch dafür ist vielleicht das dumme abschätzige Wort vom „Silbersee im Parkett“. Welche Akzente setzt hier der Deutsche Chorverband?
Scherf: Früher galt es tatsächlich als ein Ausdruck mangelnder Durchsetzungsfähigkeit des Chorleiters, wenn er noch 70-Jährige im Chor hatte. Heute werben wir darum, bis in das hohe Alter dabei zu sein. Wir haben Chöre, die speziell dafür gegründet worden sind und spezielle Chorliteratur bekommen, die man auch mit Hochbetagten singen kann. Ich habe sogar wunderbare Erfahrungen mit an Demenz erkrankten Menschen gemacht, die man über das Singen noch erreichen kann.
Wir versuchen im Chorverband möglichst, die Neugierde auf die Generationen untereinander hochzuhalten. Wir trennen nicht wie in der alten Chorbewegung die Männer von den Frauen und die Alten von den Jungen. Das können Sie bald in Frankfurt bei unserem Chorfest beobachten. Wir stellen dort nicht Knabenchor gegen Knabenchor und Männerchor gegen Männerchor auf, sondern wir versuchen, die Wettbewerber inhaltlich zu strukturieren. Wer singt Barock, wer Pop, wer Romantik, wer singt a cappella, wer kommt mit einem Orchester? Manche alten Chöre sagen: Wir werden immer älter und irgendwann sterben wir aus. Denen antworte ich immer: Sucht euch einen vitalen jungen Chorleiter! Sucht euch jemanden, der euch mit neuer Literatur mobilmacht und öffnet euch für die Jüngeren. Ihr werdet große Freude haben, wenn ihr plötzlich Nachwuchs habt, wenn ihr plötzlich mit jungen Leuten zusammen in einem gemischten Chor singt und das Gefühl habt: Es geht weiter, mit uns läuft es nicht aus. Darf ich noch was zu den Journalisten sagen?

O&T: Aber ja.
Scherf: Lange galt das Chorsingen als so eine Vereinsmeierei, wo man fast mitleidig sagte: Ach ja, da machen sie wieder bei irgendeiner Vereinsfete mit, aber musikalisch richtig kostbar ist das nicht. Ich beobachte, wie sich da die Wahrnehmung verändert, wie sich die Kulturjournalisten richtig Zeit nehmen und Schwerpunkte in ihren Medien bilden. Bei der chor.com 2011 in Dortmund waren über 100 Journalisten, jetzt in Frankfurt werden es noch mehr sein.

O&T: Vielleicht liegt dies auch daran, dass durch den Chorfrühling nicht nur neue Menschengruppen für das gemeinsame Singen gewonnen werden konnten, sondern sich auch das Repertoire weiterentwickelt hat.
Scherf: Ganz auffällig ist die Entwicklung beim Volkslied. Das Volkslied war, vielleicht durch die Nazis, vielleicht auch durch die APO, im Verruf, ewiggestrig und nationalistisch zu sein. Das singen eigentlich nur Reaktionäre, hieß die Parole. Inzwischen gibt es ein solches Interesse an Volksliedern und auch an neuen Vertonungen von Volksliedern! Und dann existieren jetzt viele Barbershops, bei denen sich junge Männer, inzwischen auch junge Frauen, schick anziehen und richtige Inszenierungen auf die Bühne zaubern. Das ist eine Musik, die ganz neue Intonationen hat und wo es auf ganz neue Wirkungen ankommt. Übrigens darf ich auch noch sagen, dass die vielen Migranten, die mit ihrer eigenen schönen Musiktradition zu uns kommen, eine große Bereicherung sind. Das ist doch auch eine Erfahrung von Integration, dadurch wachsen wir zusammen.

O&T: Welche Bedeutung haben die Profichorsänger für den Chorfrühling der Laien?
Scherf: Bei der Fortbildung von Kindergärtnerinnen und bei der fachlichen Begleitung brauchen wir Professionalität: Pädagogen, die wissen, wie man mit Kinderstimmen umgeht, die wissen, wie man intoniert, wie man Mehrstimmigkeit ausprobieren kann und die sich gut in der Literatur auskennen. Wir werden auf kommunaler wie auf Länder- und Bundesebene Mittel und Wege finden, damit wir die fachlich kompetenten, professionellen Begleiter auch angemessen honorieren können. Bis wir das geschafft haben, müssen wir noch dicke Bretter bohren. Aber ich sage schon jetzt: Ihr Profisänger, passt auf, hier gibt es eine neue zusätzliche Aufgabe! Ich will euch nicht wegholen von euren Opernchören und von euren wunderbaren Konzerterfahrungen, aber überlegt mal, wie ihr euch mit eurer Professionalität einbringen könnt in diese neue, wachsende, anspruchsvolle Chorarbeit mit Kindern. Wir arbeiten daran, eine gute Bezahlung zu bieten, so dass man darauf eine Existenz aufbauen kann.

O&T: Welche Musik singen Sie persönlich besonders gerne?
Scherf: Es ist die kirchenmusikalische Barockzeit, die mich immer wieder neu berührt und fasziniert. Während des Dreißigjährigen Krieges, wo wirklich nur noch Verwüstung, Angst, Schrecken und Hölle auf Erden war, da haben die Schütz, Schein und Scheidt sich hingesetzt und diese wunderbare Musik geschrieben und die Kraft, mit der Musik aus solcher Hölle aufzustehen, gelebt.

O&T: Herzlichen Dank für das Gespräch.

Christian Tepe

startseite aktuelle ausgabe archiv/suche abo-service kontakt zurück top

© by Oper & Tanz 2000 ff. webgestaltung: ConBrio Verlagsgesellschaft & Martin Hufner