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Der Chor ist das Volk

Eine Reportage aus dem Stuttgarter Opernchor · Von Verena Großkreutz

Der große Applaus gilt am Ende meist den Solisten. Doch die Mitglieder des Opernchors sind alles andere als Statisten auf der Bühne des Staatstheaters. Das Stuttgarter Ensemble gehört international zu den besten der Branche. Die 77 Sängerinnen und Sänger verstehen sich auf das klassische Repertoire ebenso wie auf barocke Koloraturen und avantgardistische Gegenwartsmusik. Die Vielfalt verlangt Stimmtechniken, die während der Gesangsausbildung nicht erlernt werden.

Wenn die Altistin Cristina Otey und der Tenor Johannes Petz von ihrem Berufsalltag beim Stuttgarter Staatsopernchor berichten, versteht man gar nicht, warum Opernchöre so gravierende Nachwuchsprobleme haben. So begeistert und mitreißend plaudern die beiden über ihre vielseitige und anspruchsvolle Arbeit.

„Die glückliche Hand“ mit Shigeo Ishino (Ein Mann) und Mitgliedern des Staatsopernchors.

„Die glückliche Hand“ mit Shigeo Ishino (Ein Mann) und Mitgliedern des Staatsopernchors.

Jeden Abend stehe man in anderen Rollen auf der Bühne. Am Mittwoch als Furien und Geister in Glucks „Orphée“, am Donnerstag als Dörfler in Bellinis „Nachtwandlerin“ und freitags als Soldaten und Studenten in „Fausts Verdammnis“ von Berlioz. Und parallel dazu probt man Hans Thomallas im vergangenen Jahr uraufgeführte Medea-Oper „Fremd“. Da spielt der Chor die Argonauten – die griechischen Abenteurer auf Beutezug im Barbarenland. Abnutzungseffekte gebe es nicht. Alles wirke immer wieder neu und inspirierend. 18 Nationen vereint der 77-köpfige Chor. Man singt in den Originalsprachen der Werke – neben Deutsch und Italienisch auch Französisch, Russisch, Tschechisch. Und ebenso wie die Sprachen wechseln Dirigenten und Regisseure.

Der Stuttgarter Staatsopernchor wurde bereits achtmal von der Fachzeitschrift „Opernwelt“ mit der begehrten Kritiker-Auszeichnung „Opernchor des Jahres“ gekürt. Zuletzt 2011 für seine bemerkenswerte Leistung in der Uraufführung von Thomallas „Fremd“. Markenzeichen ist seine breite stilistische Kompetenz: Nicht nur im Kernrepertoire mit Werken der Klassik, Romantik und Moderne glänzen die Sängerinnen und Sänger, sie verstehen sich auch auf barocke Koloraturen und auf die extremsten Herausforderungen der avantgardistischen Gegenwartsmusik. Diese Musik verlangt Stimmtechniken, die während der Gesangsausbildung meist nicht erlernt werden. „Klangverfremdungen sind gefordert“, so Johannes Petz, „die im normalen Belcanto-Gesang nie vorkommen“. Etwa das mikrointervallische Auffächern der Töne, das ungestützte, eigentlich laienhafte Singen oder geräuschhaft-kehlige Artikulationen.

Im A-cappella-Finale von „Fremd“ etwa hat der Chor „brüchig“ zu singen, so steht es in der Partitur: „Genau das Gegenteil von dem, was wir im Studium gelernt haben“, sagt Cristina Otey. Ungewohnte Töne zu finden, ohne der Stimme zu schaden, das sei schon eine Herausforderung.

Für Chordirektor Michael Alber – seit 19 Jahren dem Ensemble verbunden, das er seit 2001 leitet – ist „Fremd“ die Quintessenz seiner Arbeit an der Stuttgarter Oper, die er in diesem Sommer wegen seiner Berufung zum Professor für Chorleitung an die Musikhochschule Trossingen schweren Herzens beenden wird. „Mit ‚Fremd‘ haben wir einen neuen Meilenstein gesetzt“, sagt er, „niemand hat geglaubt, dass wir es schaffen, das Stück auswendig auf die Bühne zu bringen. Der Opernchor atomisiert sich in 40 Solorollen. Das müssen Sie erst mal besetzen können!“ Harte Arbeit war da nötig. Schon ein Jahr vor der Uraufführung begann man neben dem normalen Spielbetrieb mit den Proben, tas-tete sich in kleinen Schritten an die äußerst komplexe Partitur heran.

Vom Solisten zum Chorsänger

Alle Mitglieder des Chors verfügen über eine solistische Gesangsausbildung. Michael Alber achtet beim Vorsingen in erster Linie auf die technische Perfektion und Schönheit der Stimme. „Gesund und kernig“ müsse sie klingen, sagt der Chordirektor. Noch nicht ausgereifte oder abgesungene Stimmen kämen nicht in Frage. Die Kontrolle über die Stimme zu behalten, sei im Verband mit anderen schwieriger, als wenn man solo singe.

„Schicksal“ mit Heinz Göhrig (Dr. Suda), Rosalind Plowright (Mílas Mutter), Karl-Friedrich Dürr (Lhotsky) und Mitgliedern des Staatsopernchors. Alle Fotos: A.T. Schaefer

„Schicksal“ mit Heinz Göhrig (Dr. Suda), Rosalind Plowright (Mílas Mutter), Karl-Friedrich Dürr (Lhotsky) und Mitgliedern des Staatsopernchors. Alle Fotos: A.T. Schaefer

Cristina Otey hat im Alter von 14 Jahren mit dem Gesangsunterricht an der Konstanzer Musikschule angefangen, später Operngesang an den Musikhochschulen in Karlsruhe und Berlin studiert. Es folgte ein Jahr am Opernstudio des Nürnberger Staatstheaters, bevor sie sich ins stressige Leben einer frei tätigen Solistin stürzte. Da war sie 30.

2005 schließlich bewarb sie sich als Chorsängerin an der Stuttgarter Staatsoper. Sie wurde prompt genommen. Den Wechsel vom Solo- zum Chorfach hat sie nie bereut: „Ich kam hier endlich zur Ruhe, der innere Druck war weg.“ Ein Rundfunkchor kam für sie nie in Frage: „Es ist so unendlich wichtig für mich, auf der Bühne zu stehen.“
Johannes Petz hat das Musikgymnasium in Meersburg besucht, erst während seines Schulmusikstudiums an der Trossinger Musikhochschule das Singen für sich entdeckt und dann noch eine Gesangsausbildung absolviert. Gleich im Anschluss daran bekam er 1996 seine Stelle beim Stuttgarter Staatsopernchor. Das unstete Solistenleben mit seinen Kurzzeitverträgen, ständigen Ortswechseln und dem Risiko, mit alternder, eventuell beschädigter Stimme vor dem Nichts zu stehen, war für ihn von Anfang an keine Alternative zur sozial abgesicherten Stelle des Profi-Chorsängers: mit geregelten Arbeitszeiten und einem festen Einkommen, das in der Regel über dem Anfängergehalt der Solisten liegt. Man könne sich so ein soziales Umfeld aufbauen, sagt der Tenor, und Soloauftritte seien nebenher ja auch möglich. In Stuttgart wird das gerne gesehen, als wichtiges Training für die Stimme. Für Soloprojekte dürfen die Chorsänger einige Freistellungen pro Spielzeit beantragen. Zudem übernehmen sie immer wieder kleine Solopartien auf der Opernbühne – etwa in der Neuproduktion von Schönbergs „Die glückliche Hand“ und von Janáčeks „Schicksal“, wo zum Beispiel Cristina Otey die Frau Rath singt.

Vielseitigkeit und Anspruch

Was schließlich das Altern der Stimme angeht: Zumindest leichte Probleme werden durch die Gruppe aufgefangen. Obendrein ist der Beruf des Chorsängers vielseitiger. Solisten seien auf Stimmfächer festgelegt, so Cristina Otey. Chorsänger müssten hinsichtlich Klangfarbe, Größe und Timbre der Stimme mehr bieten. „Eine Soloarie fordert Spitzentöne, aber bewegt sich sonst oft nur im Mittelrahmen“, erklärt Johannes Petz. „Nehmen Sie dagegen den Chor ‚Einzug der Gäste‘ in Wagners ‚Tannhäuser‘, da bewegen sich die ersten Tenöre ständig im oberen Bereich zwischen e und h. Keine Soloarie verlangt diese ständige Präsenz in solch einer Höhe.“

„Fremd“ mit Mitgliedern des Staatsopernchors. Alle Fotos: A.T. Schaefer

„Fremd“ mit Mitgliedern des Staatsopernchors. Alle Fotos: A.T. Schaefer

Die Hauptunterschiede zu anderen Berufschören wie etwa den Rundfunkchören liegen auf der Hand: Opernchorsänger müssen auswendig singen und dazu noch schauspielern. Michael Albers Erfolgsrezept: „Möglichst viel Szene riskieren und trotzdem gute musikalische Leistung bringen.“ Musik und Gesang stehen selbstverständlich an oberster Stelle.

Der Stuttgarter Opernchor ist bekannt für seine Spielfreude. Von der Regie bekomme man in der Regel kaum Vorgaben. „Man stellt uns eine Grundsituation dar, und dann versuchen wir, selbstständig Rollen zu kreieren, uns zu individualisieren“, so Petz. Unmögliches werde fast nie verlangt. Wenn doch, bemühe man sich um Lösungen, wie etwa in Calixto Bieitos „Parsifal“-Inszenierung: „Wir sollten hautfarbene Unterwäsche tragen und waren in Frischhaltefolie eingewickelt“, berichtet Cristina Otey, „das fanden nicht alle Frauen toll. Bieito hat aber Kompromisse vorgeschlagen, bis es am Ende für jede passte“.

Aber auch klangliche Unterschiede gibt es gegenüber den Kollegen anderer professioneller Chöre. Beim Rundfunk geht es auch um Mikrofontauglichkeit. „Und einen Konzertchor stelle ich je nach Literatur so zusammen, dass es möglichst gleiche Stimmen sind“, erklärt Alber. „Das wäre der Untergang eines Opernchors, wenn eine Stimme der anderen gleichen würde. Ich muss leichtere mit kräftigeren Stimmen mischen können, und dann wird in den Proben versucht, sie im Gesamtklang zu verbinden. Und nicht in jeder Produktion treten ja alle Chorsänger auf. Die Wahl der Besetzung entscheidet, wohin der Klang geht.“

Der berufliche Alltag der Opernchorsänger an der Stuttgarter Staatsoper ist klar strukturiert: Morgens von 10 bis 12 Uhr Chorsaal- oder bis 13 Uhr Bühnenproben. Abends musikalische oder szenische Proben oder Vorstellung. An etwa 120 Aufführungen im Jahr wirkt ein Chormitglied mit. Geregelte Arbeitszeiten wurden von der Gewerkschaft, der Vereinigung deutscher Opernchöre und Bühnentänzer (VdO), erkämpft und vier bis fünf Stunden Ruhezeit zwischen Proben und Vorstellung sowie elf Stunden Nachtruhe nach der Vorstellung vereinbart. Seine sechs Wochen Urlaub darf der Chor nur in den Sommerferien nehmen. Von September bis Juli gibt es keinen freien Feiertag, außer dem 1. Mai und 24. Dezember. Eineinhalb Tage pro Woche sind frei, aber nicht an festen Tagen, sondern je nach den Erfordernissen des Spielplans. „Jeder, der hier anfängt, erhält einen von der VdO abgesegneten Tarifvertrag“, erklärt Petz, der auch Vorstand des Chors ist. „Wir sind relativ stark als Gruppe am Haus.“ Dennoch ist der Chor tariflich unter dem Orchester angesiedelt.

Zurzeit sind alle 73 festen Stellen beim Stuttgarter Opernchor besetzt. Das war nicht immer so. Und nach wie vor gibt es Nachwuchs-probleme. 80 bis 100 Stellen können deutsche Opernchöre jährlich nicht besetzen. Auch Opernchordirigent ist ein Mangelberuf. „Es ist erstaunlich, dass es bei vielen Chordirigenten keine Wahrnehmung dieses Berufs gibt“, merkt Alber an. Es liege wohl daran, dass der Kollege im Orchestergraben die Gesamtleitung habe. Man müsse sich als Chorleiter zurücknehmen, sich in den Dienst der Sache stellen. Michael Alber ist bei allen Vorstellungen anwesend, unterstützt seinen Chor von der Nebenbühne aus – und steht eben nicht im Rampenlicht.

Beim Chor selbst ist das anders. Der ist in so manch einer Produktion der Star des Abends. Und das ganz ohne Äußerlichkeiten. „Der Chor ist das Volk in der Oper“, sagt Cristina Otey. „Jedes Volk braucht unterschiedliche Menschen. Wir müssen deshalb nicht genormt sein. Wir dürfen groß sein oder klein, wir dürfen dünn sein oder dick. Wir müssen optisch nicht unbedingt gefallen.“

Verena Großkreutz

 

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