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Kulturpolitik

Bildungslandschaft: Heimatlos

Jugendtheater-Projekt am Gärtnerplatztheater · Von Wolf-Dieter Peter

Beim Stichwort „Musische Bildung“ tönt ein vielstimmiges Konzert aus der Politik quer durch die Republik: eines voller Disharmonien, voller bemühter, aber wegbrechender Spitzentöne sowie vollmundiger Ankündigungen, Ankündigungen und abermals Ankündigungen. Gewiss hat etwa das Land Nord rhein-Westfalen beschlossen, dass jedes Kind während der Pflichtschulzeit ein Instrument in Händen halten und auch klingen hören soll. Doch in der alltäglichen Praxis der Schulen, aber auch durch die Wahlmöglichkeiten in den Lehrplänen sind Kunst und Musik, Theatergruppen und erst recht Tanz ins Hintertreffen geraten. Dabei belegen Studien den Gewinn an Lern-, Merk- und speziell Sozialkompetenzen durch alle musischen Fächer. In den Filmen „Rhythm is it!“ und „Pina“ belegen ja die Äußerungen und abschließenden Urteile der Jugendlichen genau das. So ist in den vergangenen Jahren ein Gutteil dieser für ein Bildungsland wie die Bundesrepublik eigentlich unverzichtbaren „Lebensschulung“ in die freiwillige Jugendarbeit der Theater abgewandert.

„Junges Theater“

Mario Podrecnik als Harry Driscoll und Ensemble. Foto: Hermann Posch

Mario Podrecnik als Harry Driscoll und Ensemble. Foto: Hermann Posch

Auch wenn der Musical-Titel „Heimatlos“ inhaltlich auf anderes zielt: er könnte auch über diesem Bereich der Bildungsszene stehen. Doch zunächst heißt so die letzte große Produktion im Stammhaus des Münchner Staatstheaters am Gärtnerplatz – und leider hat sie noch eine umfassendere Bedeutung. Intendant Ulrich Peters wollte 2007, mit Beginn seiner Leitung dieses insgesamt schwierig zu positionierenden „Volkstheaters“, vieles initiieren und beleben. So brachte er aus Augsburg den schon dort erfolgreichen Dramaturgen, Theaterpädagogen und Regisseur Holger Seitz mit und beauftragte ihn, ein „Junges Theater“ aufzubauen. Interessierte Jugendliche zwischen 15 und 19 Jahren gab es: Auch schon vor der Intendanz Peters wirkten Schüler des Musischen Pestalozzi-Gymnasiums immer mal in Theaterprojekten mit, junge Musiker der Städtischen Sing- und Musikschule ebenso. Aus diesem Reservoir wählte Seitz 24 Jugendliche, die bereit waren, viel Zeit und speziell ausdauernde Zuverlässigkeit zu investieren: wöchentliche Übungen, Improvisationen, aufwändige Probenphasen, die auch Wochenenden und Schulferien „beschlagnahmten“. Die 16 Jahre alten Estelle, Fabian und Alicia haben noch immer Freude am „Spiel, am Ausprobieren von etwas ganz Anderem“. Der 20-jährige Bernardo flog zwar einmal für ein Jahr wegen Unzuverlässigkeit aus der Gruppe, wollte aber zurück und hat durch sein Engagement nun die fast akrobatische Rolle des Affen bekommen. Die professionelle Anleitung in Darstellung, Gesang und Tanz übernahmen Seitz, auch mal Solisten des Ensembles, im musikalischen Bereich speziell Musikpädagoge und Solorepetitor Liviu Petcu, im Bereich Körperarbeit und Tanz die Tanzprobenleiterin Fiona Copley. Schon ab April 2008 brachte das „junge theater am gärnterplatz (jtg)“ eigene Produktionen auf der Probebühne zur öffentlichen Aufführung. Dirigent Petcu formierte eine Band aus engagierten Schülern, die dann mit E-Gitarre und Frank-Zappa-Look im Orchestergraben loslegten. Das Repertoire reichte von Lothar Trolles „David Rubinovicz“ über „Snoopy“ bis zu Volker Ludwigs „Ab heute heißt du Sara“ – einem in München als ehemaliger „Hauptstadt der Bewegung“ besonders wichtigen Jugendtheaterbeitrag. In den vergangenen 5 Jahren schlugen bislang etwa 29 Jugendliche eine professionelle Theaterlaufbahn ein. Was darüber hinaus durch das „jtg“ über Geschwister, Freunde, Familien und Bekannte an Theaterinteresse bis hin zu regelmäßigen Besuchen anderer Aufführungen initiiert wurde, ist zahlenmäßig nicht messbar, wird aber vom Abo-Büro und der Kasse als „spürbar“ bestätigt.

Jugend und Senioren

Tosender Premierenbeifall für die Akteure des jungen

Tosender Premierenbeifall für die Akteure des jungen
Theaters. Christoph Vandory als Hund Brio, Constanze Hörner als Hund Zemira, Bernardo Maric als Affe Janko, Sebastian Campione als Vater Vitalis. Fotos: Hermann Posch

Für die letzte Premiere im Stammhaus wurden nun nochmals alle Kräfte mobilisiert. Im norwegischen Erfolgsmusical „Heimatlos – Kleiner Lord Remi“ führte Seitz aber nicht nur seine auf 42 Youngster angewachsene Truppe vor. Er stellte acht Solisten des professionellen Gärtnerplatzensembles, die die Erwachsenenrollen übernahmen, neun seiner jungen Solisten gegenüber. Darüber hinaus band Seitz die neun Damen und Herren des hauseigenen „Seniorentheaters ab 55“ in das „Volk“ der Bühnenhandlung ein – und Seitz’ Intention „Die Gruppe ist der Star“ war sicht- und hörbar. Im Orchestergraben hatte derweil Dirigent Liviu Petcu neben seinem Klavierpart nur auf einen Profi-Posaunisten aus dem Orchester zurückgegriffen, ansonsten aber aus zwei Jugendlichen der Städtischen Musikschule München und elf Leistungskursschülern des Musischen Pestalozzi-Gymnasiums eine mal fetzig, mal getragen aufspielende Band geformt. Was sich in diesen wenigen Sätzen so einfach liest, bedeutet lange, zähe, anstrengende und geduldige Arbeit – für die Jugendlichen oft in der Freizeit, für die Profis erst einmal rücksichtsvolles Verständnis und von allen immer wieder Geduld für das „Noch einmal!“ und „Noch einmal!“ in den Proben. Dafür toste jetzt der Beifall in der Premiere.

Tosender Premierenbeifall für die Akteure des jungen

Tosender Premierenbeifall für die Akteure des jungen
Theaters. Giulia Goldammer als Remi und Mitglieder des Ensembles. Fotos: Hermann Posch

„Heimatlos“ basiert auf einem erstaunlich sozialkritischen Roman des Franzosen Hector Malot (1830-1907): „Sans famille“, ein in Teilen an Victor Hugos „Les Miserables“ erinnerndes Kinderschicksal, dessen glückliches Ende zwar das bürgerliche Lesepublikum des 19. Jahrhunderts beruhigte, aber ein wenig unglaubwürdig wirkt. Da wird nämlich ein erbberechtigtes englisches Adelskind vom geldgierigen Lord-Onkel und einem hemmungslosen Gaunerpaar in Frankreich „entsorgt“, überlebt in der Gauklertruppe des lebensweisen „Vater Vitalis“, muss im Bergwerk arbeiten, wird von der Lady-Mutter wiedergefunden, halb ermordet, aber doch gerettet. Daraus hat das norwegische Autorentrio Wiik (Libretto) – Schjoldager (Bearbeitung) – Kverndokk (Musik) eine flotte Nummernfolge gestaltet: kess rhythmisierte Chornummern, die oft mit dem entlarvend kritischen Refrain „Wir halten uns raus!“ enden; das Schmuse-Themalied „Vertrau – die Brücke zum Himmel bau“ (das nur leider keine Hit-Qualitäten besitzt); ein gelungen abgründiger „Beinahe“-Song des bösen Lords und richtig rotz- und auch erotisch freche Songs des Gaunerpärchens, die an die Kapitalismuskritik der Brecht-Weill-Ära anknüpfen. Etwa 20 Hintergrundprojektionen, Dreh- und Hubbühne machten die vielfältigen Stationsszenen der Handlung anschaulich. Zurecht uneingeschränkten Jubel ernteten die „jtg“-Solisten: Christoph Vandory und Constanze Hörner als Hundepärchen, Bernardo Maric als körpergewandter Affe vor den Nebenrollen der Jugendlichen Nadine Spegel, Cornelius Carstens, Anna Katharina Fleck, Konstantin Parnian und Florian Beier. Im Zentrum stand die 18-jährige Giulia Goldammer als heimatloser 11-jähriger „Lord“ Remi, die in den beiden etwas langen Akten fast 2 Stunden bravourös spielte und akzeptabel sang. Insgesamt: ein „Bravo!“ für alle Beteiligten, die damit „Theaterlust“ epidemieartig verbreiten. Doch wie das Theaterleben so ist: Der Intendanzwechsel bedeutet auch für Holger Seitz das Engagementende. Zwar gibt es eine Nachfolgerin, doch angesichts der Theaterrenovierung für womöglich drei Jahre wird die Fortführung noch schwieriger als ohnehin – und gerade Jugendtheaterarbeit braucht vor allem Kontinuität. Auch wenn Neu-Intendant Josef Ernst Köpplinger zunächst sechs verschiedene Ausweichspielstätten in den Griff kriegen muss: auch an der erklärtermaßen nun in Münchens Stadtviertel „auswandernden“ Jugendarbeit wird seine Arbeit zu messen sein.

Wolf-Dieter Peter

 

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