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Kommunikation neu gestalten

Szenisches Arbeiten in der Musikvermittlung

„Ein Notenständer ist ein Pult (lateinisch pulpitum – Brettergerüst, Tribüne), das zum Ablegen von Musiknoten dient.“ So sagt uns Wikipedia, das Gedächtnis der internetaffinen Menschen. Der Notenständer ist Ort für sorgsam drapiertes Notenmaterial, das zuweilen als Installation von (Wäsche-)Klammern und diffizil zusammengesetzten (kopierten) Notenausschnitten daher kommt. Er ist „Heimat“ für die Pult-Nachbarschaft im Orchester mit ihren Hochs und Tiefs einer manchmal eheähnlichen, Jahre währenden Beziehung. Der Notenständer ist „Lichtblick“ mit seinen Leuchten oder früher Kerzen im Dunkel des Orchestergrabens. Sein Standort und seine Blickrichtung sagen dem Zuschauer, dem Dirigenten und dem Musiker sehr genau, in welcher Rangordnung und Stimmgruppe sein Besitzer sich verortet. Vor allem aber steht der Notenständer zwischen Musiker und Publikum – und ist somit der Feind des Musikvermittlers. Der Notenständer ist – polemisch zugespitzt – manifestierter Ausdruck eines statischen Konzertrituals, das keine Bewegung, weder inhaltlich, noch physisch, zulässt.

LUCERNE FESTIVAL mit „HEROÏCA“. Foto: Peter Fischli/LUCERNE FESTIVAL

LUCERNE FESTIVAL mit „HEROÏCA“. Foto: Peter Fischli/LUCERNE FESTIVAL

Dem tritt eine Entwicklung in der Musikvermittlung entgegen, die Musikerinnen und Musiker von der Fixiertheit des Notenständers zu „befreien“. Sie von ihren Noten zu lösen – Improvisation, Bewegung und einen direkten Kontakt mit dem Publikum möglich zu machen. Kurz gesagt: Musikerinnen und Musiker zu einer darstellenden Performance, zum szenischen Spiel zu motivieren und zu befähigen. Mit einem gemeinsamen Ziel: die Kommunikation zu den Zuschauerinnen und Zuschauern und zu den Zuhörerinnen und Zuhörern neu zu gestalten und als Künstler auszuleben. Dazu bedarf es anderer, neuer Kompetenzen, über die virtuose Perfektion der Beherrschung eines Instruments oder Stimme hinaus. Und es bedarf dazu Traute, sich auf neue Gefilde einzulassen.

Die Hochschulen und Konservatorien bilden nur für die traditionellen Konzertformate aus. In diesem Sinne ist eine Reform der Musiker-Ausbildung auch in den Aspekten der Darstellung von Musik dringend erforderlich.

„Ich als Choreografin möchte von den Musikerinnen und Musikern als Zusatz zu ihrer wunderbaren Musik eben auch die schauspielerische und tänzerische Leistung. Das ist etwas, was Tänzer und Schauspieler in einer abgeschlossenen Ausbildung lernen. Man muss Ängste und Hemmschwellen überwinden, sich zu zeigen auf eine Art und Weise, in der man sich sonst nicht zeigt – und das mit möglichst viel Überzeugung“, sagt die Choreografin und Regisseurin Ela Baumann, die mit vielen Musik-Ensembles an der „Inszenierung“ ihrer Konzertprogramme arbeitet. Dabei steht im Vordergrund, nichts Affektiertes, Künstliches, Verkrampftes zu entwickeln, sondern die Bewegung logisch aus der Musik heraus zu empfinden. Die Führung der Personen, die Bewegungen der Musikerinnen und Musiker ergeben sich bei dieser Arbeitsweise mit dem Körper intuitiv aus den musikalischen Gedanken: „Das ist nicht nur zum Zuschauen fantastisch, sondern das ist für die Ausführenden so logisch, dass sie es eigentlich immer überzeugend richtig machen.“ Denn: Das Auge hört mit! Das, so Ela Baumann, haben auch die Musikvermittler verstanden und reagieren mit ihren eigenen Projekten auf diese Entwicklung.

„Taktwechsel“. Szenisches Arbeiten mit Ela Baumann. Foto: Oliver Röckle

„Taktwechsel“. Szenisches Arbeiten mit Ela Baumann. Foto: Oliver Röckle

Wie zum Beispiel Johannes Fuchs, Education-Manager beim LUCERNE FESTIVAL in der Schweiz. Er hat neben vielen beispielgebenden Projekten die LUCERNE FESTIVAL „Young Performance“ entwickelt und gegründet. Mit der ersten Produktion dieser Akademie für junge Musikerinnen und Musiker – HEROÏCA – gewann das Festival den letztjährigen JUNGE OHREN PREIS 2014 in der Kategorie „Best Practice – Das Konzert“. „Young Performance“ ist eine Produktionsstätte für neue Konzertformate: Ausgewählte Alumni der LUCERNE FESTIVAL ACADEMY erhalten die Möglichkeit, unter Anleitung eines Kreativ-Teams ein einstündiges Bühnenprogramm für junge Zuhörerinnen und Zuhörer zu gestalten. Die Produktion HEROÏCA erzählt eine Geschichte ohne Worte. Sieben junge Instrumentalistinnen und Instrumentalisten zeigen ihre Lieblingsstücke – von Johann Sebastian Bach bis Karl Heinz Stockhausen – mit Spielwitz, Akrobatik, spektakulär und mit großer Liebe zur Musik, jeder Menge Dynamik und Mut zu leisen Tönen. „Die Musikerinnen und Musiker finden es toll, dass sie hier ihr Darstellungstalent entwickeln können, wozu sie während ihrer Ausbildung nur wenig Gelegenheit hatten. Durch die Arbeit mit dem Körper unter Anleitung einer Choreografin entsteht auch ein spezieller Ensemblespirit, der sich wieder positiv auf das gemeinsame Musizieren auswirkt“, beschreibt Johannes Fuchs die Arbeit in „Young Performances“. Darüber hinaus erhöht sich die Identifikation der Musikerinnen und Musiker, mit dem, was sie machen. Sie bauen aktiv eine direkte Brücke zum (jungen) Publikum. Aber: „Die Hochschulen und Konservatorien bilden nur für die traditionellen Konzertformate aus und den Konzertveranstaltern fehlen Infrastruktur und finanzielle Mittel, um solche kreativen Prozesse, die viel Zeit und Personal erfordern, überhaupt zu ermöglichen.“ In diesem Sinne ist eine Reform der Musiker-Ausbildung auch in den Aspekten der Darstellung von Musik dringend erforderlich.

Ein Überdenken der Kriterien und Wertmaßstäbe fordert nicht nur die Kreativen selbst, sondern kulminiert in der Jury-Arbeit, ob es hauseigene Preise des netzwerk junge ohren, wie den YEAH! Award oder den JUNGEOHREN PREIS, betrifft, oder aber auch Theaterpreise, wie den STELLA der ASSITEJ AUSTRIA. Das (kulturpolitisch und inhaltlich gewollte) spartenübergreifende Arbeiten fordert auch von den Expertinnen und Experten ein „open mind“. Kriterien, wie Bewegung auf der Bühne, choreografisches Arbeiten, Kontakt zum Publikum, Timing in Form und Inhalt, Mimik und Gestik werden relevant. Die eigene Kunst mit dem Können aus einer anderen Sparte zu ergänzen, erfordert die Lust und den Reiz am Imperfekten. Gerade für Musikerinnen und Musiker, die eine klassische Laufbahn einschlagen, ist das eigentlich „gegen ihre Natur“. Neu ist: das Ausloten des Repertoires nach Spiel- und Deutungsräumen, ein Umgehen mit dem Werk als offenem Material; im Sprechtheater üblich, in der Interpretation des klassischen Musikkanons unter dem Diktat der Werktreue eher unüblich. Dabei sind sich der Aufführungsprozess von Musik und die szenische Darstellung in ihren Begriffen durchaus ähnlich, nimmt man Kategorien wie Dynamik und damit Pause und Stille, Volumen und Dichte oder die Verteilung der Klangquellen im Raum zur Hand. Besonders nah liegt eigentlich die Frage des Timings im szenischen Arbeiten – in Kombination oder im Kontrast zum musikalischen Fluss.

Ein Konzert kann durch eine kluge szenische Interpretation der Musiker-Darsteller zu einem noch stärkeren inhaltlichen Katalysator werden, noch dramaturgisch dichter Spannung auf- und abbauen. In diesem Sinne verändert eine solch weit gefasste Konzertdramaturgie das Hören und das Zu-Hören durch jede Art von Publikum. Zentral ist dabei die Authentizität der Musikerinnen und Musiker – das Ausleben ihrer Profession, die des Musik-Machens. Viele Projekte, gerade im Bereich des partizipativen Arbeitens mit Kindern und Jugendlichen machen sich auf den Weg, dem Leitspruch „Das Auge hört mit“ zu genügen und Konzertangebote szenisch klug zu unterstützen. In diesem Sinne wird die Ordnung der Notenständer produktiv gestört, als Bühnenbild mit einbezogen oder als Instrument genutzt. Der Notenständer bekommt eine neue Funktion – ein echtes „pulpitum“!

Lydia Grün

 

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