Liest man unverhofft in Gesichtern und Straßenszenen, was Menschen bei vollem Bewusstsein einander antun, dann brechen Assoziationen wie Wunden auf und Geschichten, die man mit sich trägt und zu kennen glaubte, reagieren unwillkürlich, indem sie – als veränderliche Lebewesen – ihre schlimmstmögliche Wendung durchspielen. In ihrer ersten eigenen Produktion, dem „Fliegenden Holländer“ in Würzburg, zog die Regisseurin Katharina Wagner unerwartete Konsequenzen aus einem romantischen Widerstreit: Die Leute des Holländers kommen als Davidsbündler daher und werden, ehe sie gegen die Philister aufbegehren können, mit Knüppeln erschlagen. Die Wahl des ersten Stückes war wohlüberlegt: „Es gab mehrere Anfragen, bevor ich den ,Holländer‘ inszeniert habe; aber ich lehnte sie ab, da mir die Ideen, die ich für die Werke hatte, noch nicht reif erschienen. Ich muss mich im Spiegel ansehen und mir sagen können, dass ich von meinem Konzept hundertprozentig überzeugt bin und dem Publikum keine halbherzige Lösung präsentiere.“ Deshalb nimmt sie sich Zeit und ist im Interpretieren hartnäckig. Unbeteiligte Nebenfiguren kennt sie nicht; sie ist sich auch nicht zu schade, spöttisch grobe Konturen ins Kampf-Tableau von Adam und Eva einzuzeichnen: „Jedes Geschlecht hat so genannte typische Verhaltensweisen, die manchmal auf den ersten Blick dumm erscheinen mögen, aber sich beim zweiten Blick als Raffinesse entpuppen können… Oft wird so etwas angedeutet, aber nicht bis ins Letzte gezeigt. Das ist für mich keine Lösung – entweder ich bediene mich bewusst in der Klischeekiste, weil ich etwas aussagen will, oder ich bin konsequent und lasse es gleich sein. Man kann natürlich als Frau leichter mit diesen Dingen spielen, ohne gleich die Rüge der Frauenfeindlichkeit einzustecken…“ 2004: LohengrinDaraus resultierte in ihrem Debüt ein Moment ironischer Selbstverteidigung. Sie führte das voreilige Bild, das man sich von ihr gemacht hatte, auf der Bühne ad absurdum und mancher Invektivenritter, der Richard Wagners jüngster Urenkelin eine schillernde Prominenz, aber kein Künstlertum gönnte, war düpiert. Indem sie in ein Wespennest von Erwartungen stieß, legte sie ihre Fragen zum Stück überhaupt erst frei – doch vielleicht wird man sich im Mai 2004, wenn ihre Inszenierung des „Lohengrin“ in Budapest Premiere hat, rascher, unmittelbarer auf die Rätsel einlassen, über die sie jetzt mit dem Finger fährt, um Spalten und Risse zu ertasten: Was bedeutet das Helle, Gute innerhalb der Grausamkeit des Märchens? Was ist das: dieses Flirren, diese gleißende Kälte um Lohengrin, die ihn zum begehrten, einsamen Menschen macht? Wo lösen sich Grautöne vom Rabenschwarz der Gegenspieler? Welche Erkenntnis bietet Ortruds schneidender Witz? Und was für ein Mensch war Telramund, ehe er diese Heidin traf? Lebendig und vielfältigKatharina Wagner notiert Gedankensplitter, verändert sie stetig; sie bilden ein Muster und natürlich reicht die Beschäftigung weit zurück. „Bei manchem Werk ist ein Konzept sozusagen schon inszenierungsreif, es wartet nur auf eine Anfrage“, sagt sie mit einem Augenzwinkern. Was sie vorhat, ist lebendig, beweglich, vielfältig. Gewiss will sie ihre Haut mit Lesarten von Werken der Vergangenheit zu Markte tragen und geduldig alle Belehrungen über nicht nachprüfbare Autor-Intentionen anhören – aber zum wachen Leben in der Gegenwart gehört für sie auch der Wunsch, eines Tages eine Uraufführung zu inszenieren: „Dies ist eine der reizvollsten Vorstellungen überhaupt. Heute wird so oft über den Begriff der Werktreue diskutiert und spekuliert… In solch einem Fall aber könnten sich alle Beteiligten an einen Tisch setzen und sich mit vielleicht sehr unterschiedlichen Sehweisen überraschen. Die Diskussion über die Werktreue fiele vollkommen weg, da alle Beteiligten lebendig über das Werk sprechen.“ Wenn man gemeinsam eine Geschichte erzählt, dann ist Regietheater zugleich Autorentheater und Komponistentheater. Und es besteht ja kein Zwang, sich auf Bayreuth als Uraufführungsort zu kaprizieren – plausibler ist es, die anderen Theater an ihre Pflicht zu erinnern. Man kann mit Katharina Wagner nur hoffen, dass es weiterhin genug Freiräume für aufwändige, alle Kräfte eines Hauses bindende neue Projekte gibt. Angesichts enormer, teils brachliegender Talente unter jungen Komponisten stünden gegenwärtig die Aussichten dafür gar nicht schlecht.
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