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Berichte

Mehr als nur ein Techtelmechtel

Operetteneindrücke von Christian Tepe

Nachdem der vermeintlich unaufhaltsame Siegeszug des Musicals seit einiger Zeit zum Stillstand gekommen ist, erobert sich die Operette in dieser Saison flächendenkend die Gunst der Theatermacher im Nordwesten zurück. Gewiss gab es auch bisher wenige Bühnen in der Region ohne die jährliche Pflichtinszenierung, beachtliche künstlerische Erfolge einbegriffen. Bei den begutachteten Produktionen der neuen Spielzeit fällt jedoch überall der fast bekenntnisartige Eifer auf, das launische Operettennaturell ernst zu nehmen und die Inszenierungen zu Spielzeithöhepunkten aufzuwerten. In Osnabrück und Münster lassen es sich die Hausherren nicht nehmen, vom Regiepult aus ihr Glück mit der hohen Kunst der leichten Muse zu versuchen. Verschieden sind die Wege zum angestrebten Erfolg. Münster und Bremen sichern sich ab und setzen auf die Operetten-Altmeister Hellmuth Matiasek und Volker Klotz (als Co-Regisseur von Münsters Generalintendanten Wolfgang Quetes). In Osnabrück und Oldenburg ist man mutiger und beschränkt sich bei der Suche nach einer zeitgemäßen Spielform für die Operette nicht auf die bloße Wiederholung des Bewährten.

Oldenburg

Am experimentierfreudigsten erweist sich Oldenburg mit Eduard Künnekes „Der Vetter aus Dingsda“. Künnekes Parodie auf die inflationären Exotismusabenteuer der Operette („Sieben Jahre lebt’ ich in Batavia“) münzt Regisseur Arne Böge behutsam in eine Humoreske auf den Massentourismus von heute um. Dafür hat Cordelia Matthes das Schlösschen der Familie de Weert in eine Ferienkataloglandschaft verwandelt: ein sauber herausgeputztes, in seinem Inneren allerlei Luxusinventar verbergendes Strandgebirge, das zu Beginn von der ihrer Traumliebe nachhängenden Julia zum Schmachtfelsen auserkoren wird. Irina Wischnizkaja betört als zauberhafte Julia de Weert mit einem aparten Herzenston ohne Larmoyanz. Bei so viel Flair entgehen einem fast die Schwächen der Aufführung, wie dem zwar akademisch korrekten, nur zu temperamentlos ausgefallenen Dirigat Jason Weavers. Immerhin entschädigt das Oldenburgische Staatsorchester mit einem versiert die satztechnischen Finessen der Partitur auskostenden Ton. Doch auch der gediegenen Personenführung hätten stärkere tänzerische Impulse zu noch mehr Schwung und Frische verhelfen können.

Osnabrück

 
 

„Gräfin Mariza“ in Osnabrück: Natalia Atamanchuk (Gräfin Mariza), Markus Petsch (Graf Tassilo), Damen und Herren des Opernchores. Foto: Uwe Lewandowski

 

Dass auch ein Opernensemble durch Tanzfreude, Tempo und vollen körperlichen Einsatz in der Operette begeistern kann, beweist das Theater Osnabrück. Dort hat der neue Intendant Holger Schultze die Operette zur Chefsache erklärt und sogar Skeptiker mit einer alles andere als restaurativen Version von Emmerich Kálmáns langlebiger „Gräfin Mariza“ überrascht. Schultze gewinnt das Stück weniger mit Regietheaterherrlichkeiten, als durch seine stilistische Meisterschaft, was verschmitzte Irritationen nicht ausschließt. Die Musik und Schauspiel nahtlos verschmelzende Inszenierung hat ein brillantes Timing. Schultzes genaues Gespür für die Entwicklung der Figuren würzt die adligen Herzensquerelen der Handlung mit psychologischen Spannungsmomenten und erzeugt Glaubwürdigkeit. Ironie wird nicht mit dem Lächerlichmachen der Figuren verwechselt, sondern entspringt wie von selbst aus dem Aufprall der ungleichen Gemüter. So bezwingt man auch erklärte Operettenverächter.

Besonders dann, wenn Sängerdarsteller wie Natalia Atamanchuk die Bühne beherrschen. Für die Mariza verfügt sie über einen glitzernden Sopran, komödiantischen Esprit und einen entzückend trotzköpfigen Eigensinn. Selbst bei den fast ohne Striche gegebenen Dialogen hat Atamanchuk Musik in ihrer Stimme. Spektakuläre revueartig karikierende Einlagen des Tanztheaters (Choreografie: Winfried Schneider) bereichern die Aufführung um weitere Turbulenzen und der von Peter Sommerer flexibel und schlagkräftig präparierte Chor bringt noch eine Extradosis morbiden Charmes ins Spiel. Das harmoniert auch optisch fabelhaft mit dem glutvoll-süffig aus dem Graben aufblühenden Csárdás. Kurios bleibt das sehr opulente, doch dabei zugleich etwas symmetrisch-steril wirkende Schloss der Mariza, eine protzige Fassade für eine im Innern morsche Gesellschaft.

Bremen

 
 

Nadine Lehner (Valencienne) und Dunja Simic (Hanna Glawari) in der „Lustigen Witwe“ in Bremen. Foto: Landsberg

 

Zwei Stunden puren musikalischen Hochgenuss beschert das Bremer Theater mit Franz Lehárs „Lustiger Witwe“. Bremens universale Pultbegabung Stefan Klingele – der Dirigent hatte erst vor kurzem mit der überaus erfolgreichen Uraufführung von Kalitzkes „Inferno“ weithin Aufmerksamkeit erregt – setzt sich nun leidenschaftlich für die Musik dieser „unaussprechlichen Gemeinheit“ ein, wie Karl Kraus die „Witwe“ einst titulierte. Klingele beflügelt die Bremer Philharmoniker zu einem ebenso kultivierten wie blühenden Spiel mit geschmeidig hingetupften Begleitfiguren und delikat ausgeleuchtetem Rankenwerk der instrumentalen Kantilenen. Kalitzke oder Lehár? Das scheint für Klingele nicht die Frage, sondern nur gute oder schlechte Theatermusik. Für die Fülle und Elastizität der Chöre hat Thomas Eitler vorbildlich gesorgt. Warum aber der Chor in dieser bewegungsheischenden Tanzoperette sich kaum rühren darf, bleibt wohl ein Geheimnis des Regisseurs und der Choreografin Jacqueline Davenport, die mit den Tänzern durchaus zündende Tableaus erarbeitet hat. Spartenspezifische Arbeitsteilung auf der Bühne verträgt sich schlecht mit dem gattungssprengenden Operettengenre. Szenisch ist die Produktion eine hochwertige Reprise des bereits andernorts gezeigten Inszenierungskonzepts von Hellmuth Matiasek: ein Abend mit viel nostalgischem Aroma und einem ohne Valse-moderato-Peinlichkeiten zelebrierten Liebesduett. Dunja Simic vereint die widersprüchlichen Facetten der Hanna Glawari, die Schlichtheit des ursprünglich ärmlichen Bauernmädchens geradeso wie das Mondäne, Listige und bisweilen herausfordernd Aggressive in einem Porträt von bezwingender erotischer Ausstrahlung. Zum atmosphärischen Höhepunkt avanciert der Beginn des zweiten Aktes, wenn das sentimentale Vilja-Lied durch eine wie in Trance versetzte Hanna zum melancholischen Abgesang nicht nur auf die Schönheit eines Fantasielandes namens Pontevedro, sondern einer ganzen Epoche wird.

Münster

 
 

Venedig in Münster: Georg Blüml als Pappacoda, Matthias Caspari als Enrico Piselli. Foto: Michael Hörnschemeyer

 

Mit traumwandlerischer Dichte zaubert auch Generalintendant Wolfgang Quetes in Münster Johann Strauß’ „Eine Nacht in Venedig“ auf die Bühne. Die sinnlich heitere Grundstimmung des Werkes spiegelt sich in den hinreißend schönen Kostümen und pittoresken Venedig-Bauten von Karin Fritz. Das Ensemble spielt und singt sich nachgerade in einen Rausch. Quetes verschont den gutherzigen Humor des Stückes vor jeglichem Klamauk. Die glänzende Musik ist bei Peter Meiser in rhythmisch versierten Händen und die von Peter Heinrich einstudierten Chöre faszinieren durch ihre ausdrucksstarke Bühnenpräsenz und überschäumende Musikalität. Auch drei Monate nach der Premiere ist der Chorklang alert und prickelnd. Es ist wohl die raffinierteste Inszenierung dieser Auswahl und paradoxerweise zugleich diejenige, die am deutlichsten die ästhetische Grenze der Gattung aufzeigt, denn die Utopie reiner Sinnlichkeit, wie sie der in Münster assistierende Operettenpapst Volker Klotz immer wieder so beredt in Theorie und Praxis beschwört, ist längst im ewigen Amüsement der Spaßgesellschaft verendet. Und so schlägt einem in der bruchlosen Verzauberung durch die Operettenbühne, so vorteilhaft sie sich auch vom grauen Einerlei der elektronischen Unterhaltungsindustrie unterscheiden mag, doch nur das getreue Abbild einer gesellschaftlichen Realität entgegen, die Ziel, Richtung und Sinn verloren hat. Das muss auch die Operette parieren können, wenn sie als subversives Medium der Zeitkritik und nicht nur als zuckersüßer Bestandteil des besinnungslosen Vergnügens überleben soll.

Christian Tepe

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