Dies alles hat direkte Folgen für die Aufgaben und die Ästhetik eines professionellen sorbischen Theaters. Das 1952 gegründete Sorbische National-Ensemble war denn auch keine Erfindung von Funktionären, sondern eine Gabe aus dem Volk, was gerade in Hinblick auf die künftige Entwicklung des Hauses gar nicht genug betont werden kann. Während Gründungsdirektor Jurij Winar die Tänzer und Sänger des Ensembles also vorwiegend aus der sorbischen Jugend gewann, pflegte sein Nachfolger Handrij Ziesch im Sinne slawischer Wechselseitigkeit enge Kontakte zum slowakischen Volkskunstensemble SL’UK und holte den slowakischen Choreographen Juraj Kubánka nach Bautzen. Mit Kubánka hielt die artistische Brillanz osteuropäischer staatlicher Volkstanzcorps im SNE Einzug und ging dabei eine überaus glückliche Synthese mit der überkommenen sorbischen Motivik ein. Aus dem kostbaren Schatz dieser kleinen, durch Folklore inspirierten Gesamtkunstwerke aus Choreografie, Tracht, Gesang und Musik hat das SNE nun einen neuen Zyklus arrangiert. Kubánkas Arbeiten sind eine tänzerische Apotheose von Szenen aus dem Dorfleben, wobei stets der jeweils charakteristische Zusammenhang mit Brauchtum und Überlieferung der verschiedenen Regionen der Lausitz bewahrt bleibt. So bestimmen dramatisch ausdrucksstarke Momente aus dem Lebenskreis von Geburt, Liebe und Tod die Gesangs- und Tanzszene „Glocken“. Virile Kraft und Vitalität prägen die heidnischen „Hirtenspiele“, wenn die Tänzer einen zirzensischen Schlagtanz mit Stöcken austragen, die sie auf den Boden oder auch gegeneinander prallen lassen. Eine „Niedersorbische Hochzeit“, durchpulst von unbändiger Tanzlust, zieht als ein choreografisches Vergnügen der Extraklasse vorbei: Die Tracht als Ausdruck des Schönen und der Selbstdarstellung, die Aura der Körperhaltung und -führung sowie das Lächeln auf dem Gesicht der Tänzerinnen versprühen einen unwiderstehlichen Liebreiz. Schalkhafte Divertissements zu humorvollen Scherzliedern wechseln mit Gesangseinlagen im Kocorschen Volkston, bei denen die prachtvollen Trachten ihr zauberisches Eigenleben entfalten. Überhaupt avanciert die Tracht mit ihren vielfältigen, je nach natürlicher Umgebung und sozialer Lebenswelt variierenden Farbakkorden zu einem integralen Bestandteil der künstlerischen Ausdruckseinheit, wobei natürlich auch sorbisches Blaurotweiß nicht fehlt. Ihre unverwechselbare Eigenart danken die Tanzbilder überdies den vortrefflichen Bühnenkompositionen der sorbischen Meister, die wie Alfons Janca mit seiner „Spreewaldfahrt“ Sensibilität für das Alte mit schöpferischem Gespür für neuere musikalische Ausdrucksformen vereinen. Bewundernswert sind die Hingabe und ungebrochene Professionalität, mit der das gesamte Ensemble nach einer für alle Beteiligten - von den Künstlern bis zur Intendantin - leidvollen Saison der personellen Neuordnung die Vorstellung zu einem einhelligen Publikumserfolg führt. In ihrer lebensbejahenden Sinnlichkeit sind Kubánkas Choreografien ein willkommener Kontrast zu allen Modebestrebungen, den Bühnentanz der Schauspiel- und Performancekunst anzunähern und damit Macht und Magie der tänzerischen Eigenaussage zu brechen. Aber natürlich verbringen die Sorben nicht ihr ganzes Leben mit dem Zelebrieren ihrer Bräuche. Für die Fortexistenz der Nation ist die lebendige Pflege der sorbischen Sprachen die entscheidende Voraussetzung. Hier ist das SNE auch aus dem Verständnis seiner Geschichte heraus eine Waffe gegen die Assimilation. Die Basis aller Kultur ist die Sprache. Sollte sie untergehen, dann würden vielleicht eines schrecklichen Tages die dann sinnlos gewordenen, traurigen Reste sorbischen Brauchtums in den Verwertungsanstalten der Kulturindustrie landen und die Verächter der Volkskunst dürften sich bestätigt fühlen. Christian Tepe
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