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Berichte

Mitreißende Chorregie

Brittens „War Requiem“ am Musiktheater im Revier · Von Regine Müller

Benjamin Brittens „War Requiem“ gilt als Bekenntniswerk des erklärten Pazifisten und ist eine Abrechnung mit der Verherrlichung des Krieges. Seine symbolträchtige Uraufführung erlebte das epochale Werk im Mai 1962 anlässlich der Feierlichkeiten zur Wiedereröffnung der im Zweiten Weltkrieg durch deutsche Luftangriffe zerstörten Kathedrale von Coventry. Im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier ist nun erstmals der Versuch unternommen worden, das „War Requiem“ in einer szenischen Aufführung auf die Bühne zu bringen. Ein Wagnis, denn Brittens Oratorium erzählt keine Geschichte, wie etwa Händels Oratorien, die ihre Operntauglichkeit längst bewiesen haben, sondern ist vielmehr ein kontemplatives Werk ohne jede Handlung und äußere Dramatik, das den alten Text der lateinischen Totenmesse mit Antikriegs-Gedichten von Wilfred Owen kombiniert.

 
Berührendes Musiktheater am MiR. Foto: Pedro Malinowski
 

Berührendes Musiktheater am MiR. Foto: Pedro Malinowski

 

Mit der Bühnenadaption des „War Requiems“ rundet sich in Gelsenkirchen der Zyklus mit Werken von Benjamin Britten, der unter dem Motto „Trilogie der Außenseiter“ steht und der Regisseurin Elisabeth Stöppler anvertraut war. In Ermangelung einer konkreten Handlung musste Stöppler mit ihrem Team selbst zur Autorin werden und zu den reflektierenden Texten ein Bühnengeschehen konzipieren. Stöppler setzte dabei auf das dialogische Prinzip, auf dem Britten sein Werk inhaltlich und formal aufgebaut hat: Der Chor, der die lateinischen Requiem-Texte singt, wird von einem groß besetzten Orches-ter begleitet. Die von einem Tenor und einem Bariton gesungenen Gedichtvertonungen, die den liturgischen Ablauf unterbrechen, werden dagegen von einem zwölfköpfigen Kammerensemble begleitet. In Gelsenkirchen wird dieses dialogische Prinzip szenisch aufgenommen und als konfrontierende Auseinandersetzung zwischen religiöser Apokalypse-Beschwörung und persönlicher Reflexion gedeutet. Das Kammerorchester sitzt auf der Bühne seitlich und halb versenkt. Aus den Gesangssolisten werden konkrete Figuren mit teils wechselnden Rollen, während der Chor die Gesellschaft repräsentiert.

Zu Beginn ist eine alltägliche Wohnzimmerszene zu sehen: Vater, Mutter und zwei Kinder sitzen vor dem Fernseher. Es läuft eine Kriegsreportage, man hört Schüsse und Granatendonner. Der virtuelle Gefechtslärm schwillt an und plötzlich kracht durch den Schrank ein ganz realer Soldat ins Wohnzimmer der Familie, bricht zusammen und stirbt. Die Nachbarschaft läuft zusammen, dann erst setzt die Musik ein.
Nach diesem realistischen Beginn driftet das Bühnengeschehen nach und nach ins Surreale und Abstrakte ab. Großflächig angelegte Bilder kreisen um die Themen Gewalt und Vergeltung, zeigen Leid und Vergebung und beklagen immer wieder das sinnlose Elend des Kriegs. Die Regie sucht ihr Heil nicht in hektischem Aktionismus, sondern setzt auf suggestive, archaische Bilder, raffiniert komponierte Tableaus und die Ausdruckskraft von Nahaufnahmen, die auf drei Video-Projektionsflächen zu sehen sind. Eine szenische Gratwanderung, die glückt, denn Stöppler weiß ihr Personal geschickt zu bewegen und hütet sich vor plumper Konkretion.

Es sind hier nicht die Solisten, um die sich alles dreht, es ist vielmehr der Chor, der auch musikalisch die Hauptlast des Abends trägt. Hervorragend einstudiert, präzise und mit mustergültig homogenem Gesamtklang beeindruckt das riesige Ensemble aus Haus-, Extra- und Kinderchor auch szenisch mit hoher Präsenz. Bereits bei „Peter Grimes“, ihrer ersten Arbeit in Gelsenkirchen war Elisabeth
Stöpplers Begabung für mitreißende und intelligente Chorregie aufgefallen. Ihr Geheimnis klingt paradox einfach: „Ich glaube, das Schwierige an Chorregie und letztlich auch das Schöne ist, dass man eben knapp 100 Leuten gegenüber steht und versuchen muss, sie durch sehr, sehr präzise und konzentrierte Angaben individuell zu erreichen.“

Brittens „War Requiem“ ist vom Duktus ganz reflektierendes Oratorium, wenn auch mit dramatischen Ausbrüchen. Dass es in Gelsenkirchen dennoch zum berührenden Musiktheater wird, verdankt sich – neben den außerordentlichen Leistungen der Solisten Petra Schmidt, William Saetre und Björn Waag unter Rasmus Baumanns souveräner Leitung – vor allem Stöpplers unglaublich detailreicher, spannungsvoller, viele kleine Geschichten erzählender Chorregie, der es gelingt, den Appellcharakter des Werks in sprechende Bilder zu übersetzen. „Beim „War Requiem“ hat der Chor eine ganz, ganz große Rolle, weil er eigentlich ‚wir‘ meint, der Chor ist eigentlich die Gesellschaft, die im Publikum sitzt, und der Chor ist natürlich auch derjenige, der durch die Hölle geht. Der Chor meint jeden Einzelnen, also uns alle.“

Regine Müller

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