John Neumeier: Jürgen Rose hatte 1964 John Crankos „Schwanensee“ in Stuttgart ausgestattet. Schon für Crankos Münchner Neufassung 1970 wollte er eine Neuschwanstein-Kulisse entwerfen, was aber nicht realisiert wurde. Als er mir von den Schlössern Ludwigs vorschwärmte, waren für mich sofort die Parallelen präsent zwischen der Weltflucht des „Schwanensee“-Prinzen und Bayerns Märchenkönig, der sich ja auch von der politischen und gesellschaftlichen Realität entfernte. Und die Verschmelzung der Kunstfigur „Siegfried“ und der historischen Persönlichkeit Ludwigs gab mir die Möglichkeit, einen Protagonisten zu kreieren, der menschlich glaubhaft ist. Bevor ich, generell, ein Handlungsballett beginne, bevor ich Bewegungen und Bilder finde, muss ich an den Menschen in dieser Geschichte glauben... Es gibt Leute, die Emotionalität als Ausgangspunkt für eine Choreografie als altmodisch empfinden. Wie man meine Werke auch sehen mag, ich verstehe sie als emotionalen Ausdruck eines Menschen und glaubhafter menschlicher Beziehungen. In abstrakten sinfonischen Balletten ist es der emotionale Gehalt der Musik und die Persönlichkeit der Tänzer. O&T: Man findet ja immer seine Vorbilder in Künstlern, die im Grunde die eigene Veranlagung und Begabung ansprechen. In einem Interview mit einem Kollegen nannten Sie Nijinsky und den US-Choreografen Jerome Robbins. Was Sie gerade geschildert haben und auch, wie Ihre Arbeiten wirken, lassen mich unmittelbar an eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts, an den englischen Choreografen und Pädagogen Antony Tudor denken. In seinen Balletten, in der von ihm so nuanciert psychologisch durchdachten Tanzgeste ist eine tiefe, Anteil nehmende Menschlichkeit zu spüren. Neumeier: Tudor war tatsächlich mein erstes großes Vorbild. Seine Ballette sind mit die ersten, die ich als junger Tanzstudent überhaupt in meinem Leben gesehen habe, dank der US-weiten Gastspiele des New Yorker Ballet Theater, für das er einiges choreografiert hatte: „Lilac Garden“, „Dark Elegies“ und „Pillar of Fire“ – wirklich ein großer Wurf, finde ich. Diese Verbindung von menschlichen Situationen mit der komplizierten Form des klassischen Tanzes hat mich immer sehr fasziniert. Auch, dass er sehr in choreografische Details hineingegangen ist. In den 70er-Jahren war Tudor Co-Direktor des American Ballet Theatre. Ich habe damals eine Zeitlang dort gearbeitet und hatte Gelegenheit, mit ihm über Tanz zu sprechen, was sehr inspirierend war. O&T: Geprägt wurden Sie aber auch von Sybil Shearer, eine der großen Einzelgängerinnen des amerikanischen Modern Dance, die bei der Pionierin Doris Humphrey studiert und als Solistin in der Humphrey-Weidman-Company getanzt hat. In der von ihr 1959 gegründeten Sybil Shearer Company hatten Sie ihr erstes Engagement als Tänzer und haben in dieser Zeit auch choreografiert.
Neumeier: Die Geschichte mit Sybil Shearer ist interessant: Ich, ganz unter dem Einfluss von Tudor, wollte immer Geschichten erzählen, dramatische Werke machen! Und Sybil sagte ganz trocken: „Ja, was ist ein dramatisches Ballett? Das ist, wenn jemand an die Tür klopft, und man macht die Tür auf. Und niemand ist da.“ Dieses Bild ist mir irgendwie immer im Kopf geblieben. Das Witzige dabei ist: Als Sybil aufhörte zu tanzen und ihre Autobiographie schrieb, wurde deutlich, dass sie eigentlich von der Dramatik herkam, dass sie sogar bei einer ganz berühmten russischen Schauspielerin, Maria Ospinskaya, Schauspielunterricht genommen hatte. Ihr war also die dramatische Ebene durchaus wichtig. Aber sie wollte, dass man sich von Manierismen befreit. Dass man dramatische Ballette nicht in dem alten manierierten Stil choreografiert, sondern wirklich von einem Urgedanken ausgehend arbeitet und dafür eine neue Form findet. Das Wesentliche für mich in dieser intensiven Zeit bei ihr war vor allem ihr Bewegungsreichtum. Sie war ihrer Zeit weit voraus in den freien Bewegungen, in den Körper-Isolationen – in all dem Bewegungsmaterial, das vom Modern Dance dann später noch weiterentwickelt wurde. Cranko: Meister des Pas de deuxO&T: Nach Shearer waren Sie von 1963 bis 1969 in John Crankos Stuttgarter Ensemble als Tänzer engagiert, haben für die Stuttgarter Noverre-Gesellschaft, damals wichtige Plattform für den Choreografen-Nachwuchs, Stücke entworfen. Sie haben immer betont, dass Cranko für Sie kein maßgeblicher Einfluss gewesen sei. Aber irgendetwas müssen Sie doch von ihm mitgenommen haben. Neumeier: Cranko war ein wirklich großartiger Handwerker, vor allem wenn es um Pas de deux ging. Da bin ich ihm ewig dankbar für all das, was man bei ihm lernte und auch weiterentwickelte. Ja, dieses Handwerk, einen Pas de deux zu choreografieren, der nicht Resultat von irgendeinem Ereignis, sondern das Ereignis selbst ist. O&T: 1969 wurden Sie Ballettchef in Frankfurt, 1973 wechselten Sie nach Hamburg. Seitdem studieren Sie in Ihrem eigenen Hamburger Ensemble und auch überall in der Welt immer wieder ältere Ballette aus Ihrem immensen Repertoire ein. Jüngstes Beispiel: die „Illusionen“. Was macht für Sie eine solche Wiederaufnahme legitim? Die Welt und Sie selbst haben sich in den letzten dreißig, vierzig Jahren verändert... Neumeier: Ich glaube, es ist – das klingt jetzt vielleicht komisch – die Tatsache, dass ich noch lebe. Ich empfinde es so, dass Werke, die im Hier und Heute getanzt werden, keineswegs Fragmente der Vergangenheit sind. Denn Tanz lebt nur in der Gegenwart... Wobei natürlich „Illusionen“ oder auch ein anderes älteres Ballett, weil es eben in unserer Gegenwart getanzt wird, überprüft werden muss und zwangsläufig immer wieder eine Veränderung, eine Evolution durchmacht. Das heißt nicht, dass das Grundkonzept oder dass viele Schritte verändert werden. Aber ich versuche, jedes Mal, wenn ich eines meiner Ballette wieder auflege, es so anzuschauen, als hätte ich es noch nie gesehen. Und frage mich: „Was habe ich damals dabei gedacht? Ist das noch stimmig?“ Und wenn nicht, sucht man einen besseren Weg, diesen oder jenen Gedanken auszudrücken. Und natürlich gehe ich bei Wiederaufnahmen auch auf die Persönlichkeiten der neuen Besetzung ein, ändere so, dass es zu dem betreffenden neuen Tänzer passt. O&T: Ein anderes Thema: Es gab Ballettchefs, und Sie gehörten dazu, die es nicht gerne sahen, wenn Tänzerinnen heirateten und Kinder bekamen. Neumeier: Einige haben das so verstanden, dass ich persönlich gegen Beziehungen meiner Tänzer gewesen bin. Das stimmt so nicht. Aber richtig ist, dass zwischen einem Ballettensemble heute und dem Stuttgarter Ensemble, in dem ich als 21-jähriger Tänzer engagiert war, Welten liegen. Es gibt heute ich weiß nicht wie viele Kinder in meinem Ensemble. Das bedeutet aber doch, dass wir durch unsere Arbeit den Tänzern eine wirtschaftliche Stabilität ermöglicht haben. Denn ohne Geld kann man keine Familie gründen. Und natürlich, die Welt ist anders geworden: man weiß mehr, will mehr, möchte einerseits Karriere, aber auf Familie nicht verzichten. Und gut, wenn die Tänzer das jonglieren können, dann sollen sie das machen. O&T: Aber... Neumeier: Es ist kompliziert. Man fühlt ja auch eine gewisse
Verantwortung für die Tänzer, denkt für sie voraus,
wie sie künstlerisch weiterentwickelt werden können.
Und plötzlich kommt eine Tänzerin, meist sind es gleich
zwei oder drei auf einmal, und verkündet glückselig,
dass sie Mutter wird. Und mit einem Schlage wird alles hinfällig,
was man sich für sie ausgedacht hat, Rollen in Repertoire-Stücken,
Rollen in Kreationen – man muss ja mindestens zwei Jahre
im Voraus planen. Das Resultat ist, dass man sagt: Gut, bis jetzt
habt ihr alles zu tanzen bekommen. Ab jetzt konzentrie- O&T: Konzentrieren müssen Sie sich jetzt auch auf die Sicherung Ihres Lebenswerkes. Das sind 130 Werke, breit gefächert vom Erzähl- und sinfonischen Ballett bis zum Musical. Da sind die Ballettschule, eine Kunstsammlung, eine Bibliothek, eine Stiftung. Neumeier: Ich versuche sicherzustellen, dass das alles zusammen bleibt. Ich denke, dass die Lizenzen und Tantiemen meiner choreografischen Werke meine Sammlung und meine Bibliothek weiter unterstützen. Der erste wichtige Schritt dazu ist sicher die „Stiftung John Neumeier“... Man hat auch eine große Verantwortung. Wenn ich zurückdenke: Meine Sammlung fing an mit einem Buch, das ich in Cleveland gekauft habe – für 8,50 Dollar. Inzwischen hat es einen riesigen Wert. Ich könnte nun sagen: gut, sollen die Menschen nach mir zusehen, was sie damit anfangen. Aber es macht einen doch sehr traurig mitzuerleben, dass sich in England niemand für die Sammlung von Margot Fonteyn interessiert hat. Man hätte diese Sammlung zusammenhalten, im Andenken an diese große Ballerina dem Victoria and Albert Museum vermachen können. So ist sie in alle Windrichtungen verkauft worden. Sicher, es ist eine enorme Belastung, ein Testament in dieser Komplexität zu machen. Und es warten noch so viele Aufgaben auf mich... Aber ich glaube, ich bin pragmatisch genug, um jetzt doch einen Plan fertigzustellen, wie es über meinen Tod hinaus mit meinem Lebenswerk weitergehen soll. |
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