Neumeiers Überblendung des Tschaikowsky/Petipa-Klassikers „Schwanensee“ von 1895, also eines Märchens, mit einem Menschenschicksal unserer Zeit war vor fünfunddreißig Jahren eine großartige Fortschreibung der Ballettkunst in die Zukunft. Inzwischen hat das Werk in Dekor und choreografischer Durchführung Patina angesetzt. Aber Neumeiers sensibles dramaturgisches Geschick, Typen und Klischee-Situationen des klassisch-romantischen Balletts zu ersetzen durch Menschen und ihre psychologisch glaubhaften Handlungen, interessiert immer noch. Hier erlebt man einen Menschen, zerrissen zwischen gesellschaftlichem Anspruch und seinen homophilen und künstlerischen Neigungen. Für wahnsinnig erklärt und weggesperrt, driftet dieser „König“ ab in Erinnerungen und Wunsch-Visionen. In einer so erinnerten „Schwanensee“-Vorstellung träumt er sich hinein in die Figur des Prinzen Siegfried. Und auf dem Maskenball wird seine im Schwanenkostüm erscheinende Verlobte Natalia für ihn zur echten Schwanenkönigin. Mit dieser einfach-raffinierten Gleichsetzung des Königs mit der Prinzen-Märchenfigur hat Neumeier seinen Anti-Helden schon blendend charakterisiert. Am Ende stirbt der König in den Armen des ihn verfolgenden „Mannes im Schatten“, der als Angstprojektion seiner Homosexualität gedeutet werden kann und zugleich als sein Todesengel. Wer Handlungsballette zu schätzen weiß, bekommt hier ein gut erzähltes: mit Michael Schmidtsdorff am Pult, einem harmonisch tanzenden weißen Schwanen-Corps und solchen herausragenden Solisten wie Tigran Mikayelyan (König), Daria Sukhorukova (Schwanenkönigin) und Lucia Lacarra (Natalia). Malve Gradinger |
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