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Berichte
Die Passion des Jim Mahoney
„Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ an der Komischen Oper Berlin
Endlich einmal eine überzeugende Inszenierung eines Werkes, das immer wieder Rätsel aufgibt! Während Bert Brechts/Kurt Weills „Mahagonny-Songspiel“ mit seinen Ohrwürmern „Alabama-Song“ oder „Und wie man sich bettet, so liegt man“ schon vor dem Welterfolg der „Dreigroschenoper“ beim Musikfest Baden-Baden 1927 reüssierte, stieß das daraus entwickelte Großprojekt „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ auf geteilte Reaktionen. Wegen seiner Bedenken in Bezug auf das Libretto sagte Otto Klemperer kurz vor der Uraufführung an der Berliner Krolloper ab.
Tom Erik Lie als Bill, Allan Clayton als Jim Mahoney, Nadja Mchantaf als Jenny Hill und Chorsolisten der Komischen Oper Berlin. Foto: Iko Freese/drama berlin.de
Die Premiere in Leipzig 1930 geriet zum handfesten Skandal. Fressen, Saufen, Hurerei in einem modernen Sodom und Gomorra hatte man so noch nicht gesehen: Während die Herren begierig ihre Hälse reckten, fielen die Damen reihenweise in Ohnmacht. Dazu eine Musik, die Zitate der hehren Klassik durch den Wolf von reißerischem Jazz und losen Tanzrhythmen drehte, während man zu Thekla Badarzewskas schmalzigem „Gebet einer Jungfrau“ ausrief: „Das ist die wahre Kunst!“ Neben dem Protest des bürgerlichen Publikums inszenierten die Nazis erste Störaktionen. Nur langsam fand „Mahagonny“ den Weg ins Repertoire. Heute tut man sich eher schwer mit der beißenden, satirisch überspitzten Kapitalismuskritik, die knallhart das Paradies, in dem alles erlaubt ist, zur Hölle mutieren lässt. Wer seine schalen Vergnügen nicht bezahlen kann, wird zum Tode verurteilt. Ist das heute überhaupt noch eine akzeptable Aussage? Zu weiterer Verunsicherung trägt die formale Zwitterstellung des Werkes bei: Ist es nun Oper oder Anti-Oper? Locker gefügte Revue oder dramatisiertes Lehrstück, wenn nicht platter Agitprop? Oft genug sieht man „Mahagonny“ als schrillen, um die Zugnummern herumgruppierten Klamauk, der auch schon mal als dröge Abfolge von Grabreden auf den Kapitalismus erscheinen kann.
Nadja Mchantaf als Jenny Hill und Ensemble. Foto: Iko Freese/drama berlin.de
Barrie Kosky nimmt die Geschichte todernst: Statt Marionetten einer satirisch gegeißelten Gesellschaftsform zeigt er scheiternde Menschen auf der Suche nach ein bisschen Glück. Die biblischen Anspielungen, die mehr oder weniger offen im Stück zutage treten, arbeitet er heraus, entwickelt so ein Passionsspiel, das er wiederum auf seine existentielle Bedeutung befragt. Das wird von Anfang an klargestellt und entbehrt nicht der Situationskomik: Auf der Flucht vor der Polizei in der Wüste gestrandet, tritt Dreieinigkeitsmoses (Jens Larsen) mit einer mit einem überdimensionalen Kreuz geschmückten Bibel auf, Fatty, der „Prokurist“ (Ivan Turšić) mit dem Talmud – die religiösen Utensilien, einschließlich der Schläfenlocken, werden in den Wüstensand geworfen, wenn die beiden durch Initiative der Witwe Begbick in die gewinnverheißende „Netzestadt“ Mahagonny stampfen. Die bleibt ebenfalls wüst und leer, ist aller Opulenz entkleidet. Lediglich zwei schräg zulaufende dunkle Wände hat Klaus Grünberg auf die Bühne gestellt, hinter denen später überdimensionale Spiegel zum Vorschein kommen – hier bespiegeln sich die Figuren, verdoppeln sich, erhalten verzerrte und schwankende Konturen. Einfacher lässt sich die heutige Selbstbespiegelung, in der sich jeder selbst der Nächste ist, nicht ausdrücken. Auf- und Abtritte werden aus dem Bühnenboden absolviert: Aus ihm steigen die Männer aus Alaska, die „unten in der Hölle“ wohnen, die Huren, die zu ihrer Befriedigung eintreffen – auch dies eine klare, sinnfällige Metapher für „Aufstieg und Fall“. Ansonsten wird direkt, ohne jede Opulenz, abstrahierend karg erzählt: Jim Mahoney (grandios: Allan Clayton) verliebt sich in Jenny (Nadja Mchantaf), die den „Moon of Alabama“ mit schönstimmiger Koloratur und einer gewissen Melancholie besingt. „Ruhe und Eintracht“ will die von Nadine Weissmann hintergründig dargestellte Witwe Begbick durch strenge Regeln erreichen. Die drohende Zerstörung der Stadt durch einen Hurrikan macht dies obsolet: Was er an Schrecken verbreiten kann, „können wir selber tun“. Mit biblischer Wucht singen dies die Chorsolisten der Komischen Oper (Einstudierung: David Cavelius), die in Koskys großartiger Personenführung einmal mehr äußerst lebendig, im Spannungsfeld individueller wie massenwirksamer Choreografie agieren. Dass der Regisseur „Mahagonny“ als Fortsetzung von Schönbergs „Moses und Aron“ sieht, das er vor einigen Jahren eindrucksvoll in Szene setzte, wird hier zwingend erfahrbar. Das Kalb, das Jack O’Brien (Philipp Kapeller) verspeist, bis er an seiner blutigen Völlerei zugrunde geht, ist nur ein Meilenstein auf dem Weg zur Katastrophe. Geld macht nicht wirklich sinnlich: Nachdem nun alle Freiheiten erlaubt sind, erscheinen die Personen mit Ausnahme von Jim vollends gleichgeschaltet in schwarzglitzernden Kostümen (Klaus Bruhn). Etwas Freudloseres, Geschäftsmäßigeres als der „Liebesakt“, der nur die ihren Kaugummi in den Eimer spuckenden, zu Jenny in den „Untergrund“ hinabsteigenden und mit heruntergelassenen Hosen wieder heraufsteigenden Männer zeigt, ist kaum vorstellbar. Jim und Jenny singen anschließend das „Kranichduett“, als Parabel auf Liebe und Trennung, distanziert und anrührend zugleich. Alaskawolf-Joe (Tijl Faveyts) stirbt im Boxkampf gegen Dreieinigkeitsmoses, Jim, der sein ganzes Geld verwettet hat, wird wegen des Kapitalverbrechens der Zahlungsunfähigkeit hingerichtet, nachdem er vorher geschlagen und geblendet wurde – die Parallelen zur Passion Christi sind offensichtlich. Das sind blutige Szenen von äußerster Grausamkeit und doch eine Ahnung von Realität jenseits des Opernhauses, ganz ohne Tafeln mit antikapitalistischen Parolen oder Videos über aktuelle Greueltaten.
„Lasst euch nicht verführen, es kommt nichts hinterher“, singt der Chor dazu seine antiklerikale Botschaft, während der tote Jim allein auf der Bühne liegt, und so ist das „Nein“ zu Gottes strafandrohendem Besuch in Mahagonny auch nur folgerichtig, ein im Glaskasten hereinrollender Affe. Und der abschließende, über Lautsprecher eingespielte Chor „Können uns und euch und niemand helfen“ ist nicht Widerspruch erregende Anklage wie etwa in Joachim Herz’ Inszenierung von 1977, sondern tieftraurig stimmende Dystopie. Ihre Eindringlichkeit ist nicht zuletzt Ainārs Rubiķis zu verdanken, der das Orchester der Komischen Oper straff durch Weills heterogene Partitur führt und ihm in äußerster Transparenz immer wieder klangschönen Ausdruck, Träger der emotionalen Beteiligung, entlockt.
Isabel Herzfeld |