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Geschlechterkampf und Nationalcharakter

200 Jahre Webers „Freischütz“

Man parodiert nur das gut, was man liebt. Das gilt auch für Carl Maria von Webers romantische Oper „Der Freischütz“ auf das Textbuch Friedrich Kinds: um 1820 ein phantastischer Bestseller-Stoff, um 1860 aufbereitet zu einer deutschen Nationaloper, nach 1945 aus der Perspektive eines entzaubernden Theaters kritisiert. Die Liebe des deutschsprachigen Publikums zum „Freischütz“ erfuhr deshalb 150 Jahre nach der Uraufführung am 18. Juni 1821 eine kurzfristige und nach 2000 wieder korrigierte Eintrü-bung. Parallel zur auf alle Theater überspringenden Erfolgsserie, die im Berliner Königlichen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt wenige Wochen nach dessen Einweihung am 26. Mai 1821 begonnen hatte, häuften sich die Parodien: „Der Freischütz oder Staberl in der Löwengrube“ von Carl Carl für das Isartortheater München (1822), Franz Grillparzers „Wolfsschlucht-Parodie“ (1822), „Samiel oder Die Wunderpille“ (1824), Karl Höpfners romantisch-komische Operette „Der Freischütz in Kamerun“ (1877) und Otto Hösers Singspiel „Kommt ein schlanker Bursch gegangen“ (1918). Mit einer Parodie feierte auch Paris, wo die Oper seit 1824 regelmäßig zur Aufführung gelangt, das 200-Jahre-Jubiläum neben einer konzertanten Aufführung des Originals unter René Jacobs mit der Sing-Akademie Zürich und dem Freiburger Barockorchester: Hervé ergoss seinen musikalischen Witz und Spott in der vom Palazzetto Bru Zane wiederentdeckten Operette „V’lan dans l’œil“ gleichermaßen auf den „Freischütz“ und Rossinis „Guillaume Tell“.

„Freischütz“ am Konzerthaus Berlin (Generalprobe) mit Wolfgang Häntsch als Samiel. Foto: Markus Werner

„Freischütz“ am Konzerthaus Berlin (Generalprobe) mit Wolfgang Häntsch als Samiel. Foto: Markus Werner

Neidischer oder bewundernder Spott schadet im Theater dem Urbild in der Regel nicht. Viel geschrieben wurde über die von Weber nicht beabsichtigte Positionierung des „Freischütz“ gegen die Opern „Olympia“ und „Agnes von Hohenstaufen“ des nicht nur von Richard Wagner geschmähten preußischen Generalmusikdirektors Gaspare Spontini. Webers Sohn Max Maria betrieb dann die Heiligung des „Freischütz“ zum Nationalstück des Deutschen Bundes. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wurde die Trias von „Freischütz“, „Zauberflöte“ und „Fidelio“ demzufolge als Beginn eines genuin deutschen Opernschaffens betrachtet. Bekannt sind Glück und Unbehagen am „Freischütz“ durch eine Reihe von Standardtexten, welche durch Programmheftredaktionen und als Ensemble-Informationen weitergereicht werden.

Die Rezensionen des Uraufführungs-Sturms setzten die Kenntnis des Sujets bei den Lesern voraus, was die Popularität der Handlung bestätigt. Die Grenze zwischen Urbild, Umformung und Parodie eines Sujets waren Anfang des 19. Jahrhunderts allerdings fließend. Weber musste sich mit seiner strategisch zielstrebigen Komposition einem großen Konkurrenzdruck stellen: Der Possen-Autor Johann Nestroy sang den Kurfürst Ottokar in Webers Vertonung und trat später mit seinem Komiker-Partner Wenzel Scholz im Wiener Theater in der Leopoldstadt in „Der Freyschütze“, einer „romantisch-komischen Volkssage“ von Ferdinand Rosenau, auf. Das Schauspiel „Die Schreckensstunde am Kreuzwege um Mitternacht oder Der Freyschütze“ des Ritterromanautors Joseph Alois Gleich wurde in Dorftheatern des Inntals von Kiefersfelden bis Brixlegg noch gespielt, als Webers „Freischütz“ längst etabliert war und Ende des 19. Jahrhunderts von der Komponisten-Generation nach Verdi als Vorbild entdeckt wurde. Die dramatische Bearbeitung „Der Freischütz“ von Franz Xaver von Caspar nach der Geschichte aus dem Gespensterbuch von Apel und Laun, die man hin und wieder auch als Vorbild von Weber und Kind erwähnt, erschien mit einer Schauspielmusik von Carl Neuner erst 1825, vier Jahre nach der Uraufführung von Webers Oper.

„Freischütz“ am Tiroler Landestheater. Foto: Birgit Gufler

„Freischütz“ am Tiroler Landestheater. Foto: Birgit Gufler

Trotz des Schauplatzes „Böhmen nach dem dreißigjährigen Krieg“ wurde Webers „Freischütz“ schnell als nationales, besser mentales Manifest des Deutschseins betrachtet. Die beiden im dritten Akt vor dem Probeschuss eingeschobenen Ensemblesätze – Brautlied und Jägerchor, die bekanntesten Nummern der Partitur – erfüllten dafür alle Voraussetzungen: Eingängigkeit, Idyllik und sogenannte „Volkstümlichkeit“. „Sein schöner grüner Jungfernkranz und sein herrliches Jägerlied haben hier schon oft am Wasser und in den frischgrünen Wäldern widergehallt“, schrieb Otto Heinrich Graf von Loeben schon ein Jahr nach der Uraufführung.

„Freischütz“ am Tiroler Landestheater. Foto: Birgit Gufler

„Freischütz“ am Tiroler Landestheater. Foto: Birgit Gufler

Viele Aufführungen des 19. Jahrhunderts waren geprägt von „Veredelungen“ des ländlichen Schauplatzes. Schon bei der Uraufführung im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt war das „halb verfallene Jagdschlösschen“ als klassizistisches Interieur gestaltet. Die Jägerburschen Max und Kaspar schritten in von Zeitzeugen belächelten Ballett-Trikothosen zum Kugelsegen, und die Pariser Einrichtung von Castil-Blaze versetzte die Handlung in das damals modische Schottland. Brautlied und Jägerchor waren beliebte Genreszenen und wurden erst im sogenannten Regietheater nach dem Zweiten Weltkrieg ein Anlass, um werkimmanente Geschlechterrollen an denen der Entstehungs- und der eigenen Aufführungszeit zu reiben.

Auch La Fura dels Baus zeigte am 18. Juni 2021 im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt, dem Ort der Uraufführung, mit dem von Michael Alber einstudierten Rundfunkchor Berlin, dass es zwischen Frauen und Männern mehr Konflikte als Glück gibt. Aus dem Plan einer vom Publikum begehbaren und von Christoph Eschenbach dirigierten szenischen Installation als Jubiläumsaufführung wurde wegen der Pandemie eine Fernseh-Liveübertragung mit Public Viewing auf dem Gendarmenmarkt. Das Konzerthausorchester saß auf dem Podium, das Dirigentenpult stand an der Rampe links vorn. Solisten und Chor bewegten sich im Parkett durch zwei Reihen von Segeln für Projektionen und vor Maschinerien des katalanischen Performance-Kollektivs. Nach dem Brautlied schritten die Chorfrauen mit roten Flecken auf den hellen Röcken durchs Halbdunkel. Mit bedrohlicher Haltung und Kopfleuchten wurden sie von Männern eingekreist. Eindeutig erkennbar standen diese Zeichen für Abtreibung und Vergewaltigung: Frauen als Opfer, Männer als Täter. In Webers Oper sind sich die Geschlechter nur im Spott über die Titelfigur Max, im Entsetzen über den fehlgegangenen Probeschuss und im Gebet an Gott und den Landesherrn einig. Das fordert zur Darstellung scharfer Risse in der „Freischütz“-Welt heraus.

„Freischütz“ auf der Felsenbühne Rathen (2008). Wolfsschluchtszene mit Grigor Shagoyan als Kaspar und Herren des Chores. Foto: Hagen König

„Freischütz“ auf der Felsenbühne Rathen (2008). Wolfsschluchtszene mit Grigor Shagoyan als Kaspar und Herren des Chores. Foto: Hagen König

In Inszenierungen des Innsbrucker Intendanten Johannes Reitmeier erschien zu Ännchens Lied „Kommt ein schlanker Bursch gegangen“ der böse Samiel als Verführer in Rot. Bei La Fura dels Baus drängte sich während der Traumballade ein Tänzer als „Nero, der Kettenhund“ mit heraushängender Zunge zwischen Agathe und Ännchen. In gleich zwei Leipziger Inszenierungen wurde Samiel mit Schauspielerinnen besetzt: Christian von Götz machte an der Leipziger Oper aus Samiel die verwilderte Bedrohung einer patriarchal geordneten Welt (2017); bei Matthias Oldag an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ (2015) erschien der Teufel als Femme fatale. Die Analyse der Geschlechterpositionen ist ein gewichtiges Narrativ – egal ob man den „Freischütz“ in einer archaischen Gegend ansiedelt, im beginnenden Biedermeier der Entstehungszeit, mit dem Einbruch „finstrer Mächte“ in ein Nierentisch-Wohnzimmer (Regie von Jan-Richard Kehl in Görlitz 2016) oder als Scheinidylle wie bei Loriot an der Oper Stuttgart (1988).

Die Hommagen zur 200-Jahre-Feier fielen wegen der Pandemie spärlicher aus als geplant. Aufsehen erregte an der Bayerischen Staatsoper die Neuproduktion von Dmitri Tcherniakov, der alle übersinnlichen Momente wegblendete und die Oper unter psychisch angegriffenen Figuren einer korrupten Business-Gesellschaft spielen ließ. Johannes Reitmeier brachte den „Freischütz“ am Tiroler Landestheater mit den von Hector Berlioz 1841 für die Pariser Oper komponierten Rezitativen in deutscher Übersetzung heraus (2020/2021) – seine fünfte Inszenierung des Stücks. Er war schon von dem Werk fasziniert, als Theaterleitungen am Ende des 20. Jahrhunderts den „Freischütz“ als unzeitgemäß betrachteten. Heute scheint dieser Bann gebrochen: In Hinblick auf die Vorstellungsfrequenz erobert sich der „Freischütz“ die frühere Vorrangstellung zurück.

Ein gutes Beispiel für die Auseinandersetzung durch verschiedene Epochen bietet der virtuelle „Streifzug durch 200 Jahre – ‚Freischütz‘ im Visier“ der Semperoper Dresden (https://www.semperoper.de/freischuetz-im-visier.html). Die Elbestadt hat eine besondere Beziehung zu dem Stück, das Weber dort im heutigen Weber-Museum Hosterwitz komponierte und in deren südlicher Region der Originalschauplatz der Oper liegt. Nicht wenige jugendliche Zuschauer wurden dort durch „Freischütz“-Aufführungen auf der Felsenbühne Rathen im Elbsandsteingebirge wie bei den Freilicht-Festspielen in Eutin, Webers Geburtsort, für die Kunstform Musiktheater begeistert. In Einrichtungen wie Jasmin Solfagharis „Freischütz für Kinder“ an der Musikalischen Komödie Leipzig (2015) gehört Webers Oper wie „Die Zauberflöte“ noch immer zu den am besten geeigneten Opernsujets für Kulturvermittlung und Theaterpädagogik. Erst recht, wenn ein multikulturell geprägtes Ännchen Shisha raucht wie in Altenburg und Gera (2016).

Roland H. Dippel

 

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