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Berichte

Von Stimme und Sprache

Das Singen als musikalisches Grundphänomen · Von Peter Gülke

Beim Jahreskongress des Bundesverbandes Deutscher Gesangspädagogen (BDG), der vom 12. bis 14. April 2002 unter dem dem Motto „Belcanto bis Belting: Stimme und Stil” in Hamburg stattfand, standen praxisbezogene Werkstätten, die Gesangsstilen und -epochen von der Alten Musik bis zum Musical gewidmet waren, auf dem Programm. Peter Gülkes Festvortrag, den wir in gekürzter Form abdrucken, befasste sich mit dem Singen als musikalischem Grundphänomen.

Singen als elementare, natürliche, direkte Äußerung – das ist uns so elbstverständlich, dass wir die Selbstverständlichkeit mit relativierenden Zweifeln behelligen und fragen dürfen, inwiefern das natürlich Erscheinende auch historisch bedingt sei und zu anderen Zeiten Singarten als natürlich empfinden wurden, die wir nicht so empfinden würden – und umgekehrt. Nach Ansatzpunkten muss man nicht lange suchen. Die die Tonhöhen portamentierend ineinander schleifende Sing-und Spielweise um 1900 erscheint uns ebenso fremd und unnatürlich wie andererseits die ans Ariose, mindestens Melodramatische angrenzende Deklamation großer Schauspieler der damaligen Zeit, unter anderen Alexander Moissis; die Kultur des Kastratengesangs hätte nicht so lange blühen können, wäre sie den Zeitgenossen so unnatürlich beziehungsweise naturwidrig erschienen, wie sie uns erscheint – mindestens macht sie uns, sofern wir sie nicht von vornherein als hochartifizielle Abartigkeit beiseite schieben wollen, darauf aufmerksam, dass im Begriffsfeld „natürlich“ verschiedenartige Konnotationen und Vorstellungen Platz finden. Die auf gleicher Tonhöhe nachgeschobenen Repetitionen insbesondere bei Kadenzbildungen von Cavalli-Opern erscheinen etlichen Sängern heutzutage so künstlich, dass sie ihnen kaum jene persönliche Beglaubigung verschaffen können, welche zum Singen allemal gehört. In der Musikentwicklung des 15. Jahrhunderts ist, auch bei theoretischen Selbstverständigungen, unter Maßgaben wie dem italienischen „dolce stil nuovo“ oder dem euphonischen Klang bei den Engländern viel von Süße, neuartiger Sonorität etc. die Rede – der wichtigste Theoretiker hält erst die seit etwa 1435 entstandene Musik für „hörenswert“ –, dennoch vermitteln die bildlichen Darstellungen Musizierender, unter anderem die Engel auf Jan van Eycks Genter Altar oder die Knaben auf Lucia della Robbias Florentiner Sängerkanzel, eher den Eindruck, dass mit Anstrengung gesungen wurde, scheinbar weit entfernt von aller entspannt-natürlichen dolcezza. Wer aber gäbe uns das Recht und adäquate Maßstäbe, Natürlichkeit und Anstrengung in der hier nahe liegenden Weise als Gegensätze zu betrachten? – an der „natürlichen“ Hervorbringung eines Spitzentons etwa haben allemal auch angestrengte Komponenten teil. Weil zur Sicherheit im Gebrauch der je eigenen Mittel beim Singen und Musizieren auch Befangenheit gehört, Ausgrenzungen also und die Unfähigkeit, außerhalb Liegendes leichthin sich anzueignen, wäre es eine ebenso vergebliche wie schädliche Mühe, die eingangs angesprochene Selbstverständlichkeit reflektierend auflösen, auch nur unterminieren zu wollen. Nützlich indessen mögen derartige Überlegungen sein, um die besondere Problematik einer Situation zu erkennen, in der wir, anders als in früheren Zeiten, mit Musik sehr unterschiedlicher Stilistik zu tun haben, und den Prüfstand genauer ins Auge zu fassen, den diese Situation darstellt.

Natürlichkeit – Reflexion

Glücklicherweise kommen wir dabei mit der nahe liegenden Entgegensetzung von unreflektiert-naiver Natürlichkeit und deren Gefährdung durch relativierende, historisierende Reflexion nicht weit: Auch jene Natürlichkeit hat ihren, zudem ehrwürdigen, theoretischen Hintergrund – die vornehmlich mit den Namen Rousseau und Herder verknüpfte Vorstellung einer Ursprache, in der Ton und Wort, Musik und Sprache beziehungsweise Singen und Reden noch ungeschieden beieinander und ein und dasselbe, infolgedessen auch Emotionalität und Rationalität kaum unterschieden waren, sodass es sich um eine bereits qua Struktur aufrichtige Sprache hätte handeln müssen, in der man nicht lügen, weil das Gesagte von den begleitenden Emotionen und Motiven nicht trennen konnte. Rousseau hat das gar an der Gegensätzlichkeit der eindeutigen Vokale des Italienischen und der „heuchlerischen“ Nasalierungen des Französischen – seiner eigenen Sprache – festmachen wollen, die weithin übers Wasser klingenden Gesänge venezianischer Gondoliere waren für ihn ein Urerlebnis. Nun lässt sich die Vorstellung einer derartigen Ursprache zwar leicht als „antiquarische Utopie“, als idealtypische Überspitzung überführen, weil zur Begrifflichkeit des Wortes allemal gehört, dass man sie in unterschiedliche, gegebenenfalls lügnerische Zusammenhänge einsetzen kann; das taugt dennoch nicht zur Widerlegung ihrer motivierenden Hintergründe und ihrer Wirkungen. Diese sind Rousseau mächtig und würdig genug erschienen, um den Auseinanderfall der ursprünglichen Identität in Sprache einerseits, Musik andererseits als „catastrophe“ zu empfinden.

Bei den Hintergründen obenan steht die jedem Musizierenden, insbesondere Singenden – bewusst oder nicht – geläufige Konzentration aller Wesenskräfte, emotionaler und rationaler ebenso wie physischer Komponenten im Hinblick auf das, was gesagt, und die Art, wie es gesagt werden soll, jene innere Sammlung und Organisation aller uns gegebenen Möglichkeiten, welche Musik und Musizieren in einzigartiger Weise zu einer persönlich beglaubigten Disziplinierung und auf diese Beglaubigung angewiesen macht und, als ihr wichtigstes humanisierendes Moment, zur hohen Schule der – in unserer Welt in jederlei Weise gefährdeten – Konzentrationsfähigkeit.

Die menschliche Stimme, wie immer der Ausbildung bedürftig, nicht nur als das natürlichste, sondern als einziges natürliches Instrument – das begünstigt die Vorstellung, sie müsse sich auf eine, die ihr am ehesten entsprechende, Singart einpendeln beziehungsweise diese in je durch das Objekt bestimmten Abweichungen umkreisen. Dem ist leicht die Pluralität der Stilistiken, Singweisen et cetera entgegenzuhalten, die sich auch im Arbeitsprogramm dieses Kongresses widerspiegelt – und dem wiederum muss die Vermutung angeschlossen werden, dass Nachlebenden jene Pluralität längst nicht so breit gestreut, deutlicher auf ein Zentrum bezogen erscheinen würde als uns. Das jedoch wird sich nie vergleichend nachmessen lassen, weil diese Nachlebenden wiederum in andere Selbstverständlichkeiten und Vorstellungen von Natürlichkeit eingebunden sein werden und aus denen ebenso wenig werden aussteigen können wie wir aus den unseren. Das ähnelt ein wenig der Situation auf verschiedenen Gestirnen Lebender, die voneinander wissen, einander aber nie erreichen werden.

Muttersprache

Die Befangenheit in der eigenen als der je „eigentlichen“ Sing- oder Musizierweise zeigt sich deutlich, wo, häufig genug, Selbstverständigung mit Abgrenzung einhergeht und mithilfe nationaler Charakteristiken benannt wird, was über national gebundene Kriterien, die am leichtesten erkennbaren, hinausreicht. In Zeiten, da auf fast allen großen Bühnen „La Traviata“ italienisch, „Carmen“ französisch, „Boris Godunow“ russisch und „Katja Kabanowa“ tschechisch gesungen und in Kauf genommen wird, dass ein Großteil des Publikums die besondere, sprachbezogene Unmittelbarkeit der Verbindung des jeweiligen Wortes mit der zugehörigen musikalischen Prägung nicht nachvollziehen kann, muss unerachtet des souveränen Umgangs vieler Sänger mit fremden Sprachen dennoch zu fragen erlaubt sein, ob wichtige Momente der Verbindung von Worten mit Tönen nicht in muttersprachlichen Bezogenheiten, das heißt in Sachverhalten gründen, derentwegen zum Beispiel einem je in der eigenen Sprache gesagten, geflüsterten, gesungenen „ich liebe dich“, „I love you“, „je t’aime“ mehr persönliche Beglaubigung eigen ist als in einer fremden, dass hier, aufs Thema bezogen, die Grade der Natürlichkeit differieren. Die Überlegung, von der Funktion der Texte als kompositorischer Inspirationsquelle angeregt, taugt nicht als sprachchauvinistisches Argument, wohl aber dazu, die Probleme der aus vielen Gründen begrüßenswerten Internationalisierung unseres Musiklebens genauer ins Visier zu nehmen. Originalsprache, die nicht verstanden wird (wenn irgendein, dann ist Musik ein mitteilendes Medium), erscheint in mindestens gleichem Maße als Fetisch wie ein geradewegs als Authentizitätsgarantie in Anspruch genommenes, von Musikern hier und heute gespieltes Originalinstrument. Petrarca und Goethe haben musikgeschichtlich gewirkt in einer Weise, mit der etliche bedeutende Musiker kaum mithalten, weil sie zunächst fast ausschließlich in den Ländern komponiert wurden, deren Sprache sie sprachen.

Ähnlich wie bei der „Natürlichkeit“ und in direktem Zusammenhang mit ihr gilt es aber auch hier, falsche Verabsolutierungen abzuwehren. So gern wir, Prägungen bei Schubert, Schumann, Wolf, Mahler, Janácek und anderen erinnernd, auf der einmaligen, nicht mehr auflösbaren Getroffenheit bestimmter Verbindungen von Worten und Tönen insistieren wollen, so wenig wir manche Texte vergegenwärtigen können, ohne die zugehörige Musik mitzudenken – von einer getroffenen Verbindung als der einzig und allein möglichen sollten wir dennoch nicht reden und die vertikal orientierte Vorstellung, Musik sei auf Worte komponiert, Worte seien auf Musik gedichtet, durch die eines horizontalen Nebeneinanders zu ersetzen versuchen. Grob gesprochen drängt die diskursive Begrifflichkeit der Worte auf prozessualen Fortgang, die durch übergreifende Bezüge formbildende Musik auf Wiederholung.

Vox humana

Im Übrigen hat die Kongruenz von Worten und Tönen viele Facetten und Dimensionen. Dass die rhetorisch-deklamatorischen neben stimmungshaften obenan stehen, ist vor allem einer von den Humanisten des 16. Jahrhunderts proklamierten Priorität zu danken, welche von früheren, kaum weniger schlüssigen Verbindungen polemisch abgehoben wurde und noch heute nachwirkt. Auch einem in einer instrumental geführten Stimme bei Bach oder in einem breit ausgezogenen altniederländischen Melisma „schwimmenden“ Text kann die Musik durch solchermaßen abstandhaltende Dispositionen besondere Eindringlichkeit verschaffen. Gerade aus einem scheinbar andersartig, zum Beispiel musikalisch eigengesetzlich determinierten Zusammenhang können Texte oder Textteile besonders profiliert hervorleuchten, auch wo das Wort sich durchsetzen, durchkämpfen muss, redet es auf besondere Weise. Jene Priorität kann uns gar bei vertrauter Musik im Wege stehen.

Als sei der Hintergrund von Rousseaus „catastrophe“ virulent geblieben, anders ausgedrückt: als ließe der Neid auf die natürlichste Verlautbarung und das einzige natürliche Instrument sich letzten Endes nicht beschwichtigen, haben die Komponierenden im Umkreis der menschlichen Stimme keine Interferenz ausgelassen und sich immer neu an ihr inspiriert. Mozarts dramatische Accompagnati stehen in direktem Zusammenhang mit melodramatischen Erfahrungen, mithin einem Experimentierfeld vielfältigster Verbindungen sprechenden Singens, singenden Sprechens mit Musik, und im Instrumentalrezitativ der klassischen instrumentalen Formen legitimiert die Faszination durch den vokalen Gestus das Paradoxon einer Rhetorik ohne Worte, welche sich verhält, als transportiere sie Worte, und ihre spezifische Eindringlichkeit dem Anschein dankt, sie rufe nach ihnen. Bis in die Zeiten des jungen Beethoven hinein stand für das ästhetische Denken außer Frage, dass die Musik allein in Verbindung mit dem Wort ihrer wahren Bestimmung zugeführt sei, womit unter anderem dem längst vorliegenden Instrumentalwerk Haydns oder Mozarts immer noch ein Schatten von Inferiorität verblieb – André-Ernest Modeste Grétry, von der Ästhetik der französischen Aufklärer herkommend, pries Haydns Sinfonien als Steinbruch, aus dem wertvolle musikalische Brocken bezogen und in der Verbindung mit Worten ihrem eigentlichen Zweck zugeführt werden sollten. In der Konstellation eines zum oder im Orchester spielenden Solo-Instruments – das gilt für das barocke Solokonzert nicht minder wie etwa die Sologeige im zweiten Satz von Brahms’ erster Sinfonie – bleibt allemal das Moment der als handelndes Subjekt aus dem Ensemble heraustretenden „vox humana“ der Hinblick auf den singenden Menschen mitenthalten.

Das Vorspiel von Konstanzes Martern-Arie musste „zu lang“ ausfallen, um der Utopie der Vereinigung der Stimme mit den Instrumenten Raum zu bieten: Wie jene diesen, nähern diese jener sich an, sie vereinigen sich in der flehentlichen Bitte um eine zunächst kaum erhoffbare humane Liberalität, und schon die Dimension verdeutlicht ihre Chance – der Bassa lässt sie reden. Der Theaterpraktiker Mozart muss gewusst haben, was er der Bühne zumutete, also auch, was die Zumutung rechtfertigte – eine die konkrete Situation in Anliegen und Mitteln übersteigende Transzendierung, in der das Naturrecht der Liebenden und die Natürlichkeit der unter Konstanzes Führung zur „vox humana“ vereinigten Stimmen, einander legitimierend, nahezu identisch werden.

Peter Gülke

Der vollständige Vortrag wird in der Kongress-Dokumentation nachzulesen sein, die beim BDG bestellt werden kann. (www.gesangspaedagogik.de)

Peter Gülke ist seit 1959 als Dirigent tätig. Er war Kapellmeister an der Staatsoper Dresden und ab 1981 Generalmusikdirektor seiner Heimatstadt Weimar. 1983 wechselte Peter Gülke in die Bundesrepublik, war von 1986 bis 1996 Generalmusikdirektor der Stadt Wuppertal und ist regelmäßig Gast der führenden Orchester und Opernhäuser in ganz Europa. Seit 1996 ist Peter Gülke Professor für Dirigieren an der Musikhochschule Freiburg. Als Musikwissenschaftler beschäftigte sich Peter Gülke unter anderem mit Fragen der musikalischen Aufführungspraxis vor allem alter Musik, aber auch mit Beethoven, Schubert, Janácek, Debussy und zeitgenössischen Komponisten. Peter Gülke ist Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste sowie der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt.

 

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