Zu diskutieren gab es in Aschaffenburg genug. Öffentliche Proben der konzertierenden Chöre wechselten sich ab mit Vorträgen über die Entwicklung des Chorgesangs im 19. und 20. Jahrhundert und seinen Bezug zur jeweiligen zeitgenössischen Musikszene (Clytus Gottwald, Stuttgart) oder über die Notationsformen zeitgenössischer Chormusik (Raimund Wippermann, Düsseldorf). Die neue Literatur verlangt von den Sängern schon einiges an stimmlicher Beweglichkeit, Offenheit für alles Neue und theoretischen Kenntnissen. Anforderungen, die viele Chorleiter außerhalb der professionellen und semiprofessionellen Szene zunächst einmal abschrecken. Besonders instruktiv waren daher die so genannten Reading-Sessions, in denen die Teilnehmer die von kleinen Ensembles vorgestellte Musik von der Bitonalität über Zwölftönigkeit bis hin zu Geräuschklängen mitlesen und zum Teil auch mitsingen konnten. Eine weitere Aufgabe des AMJ ist es, Komponisten und Chöre zusammenzubringen, so dass in der Zusammenarbeit neue, auch für Laien singbare Werke entstehen. Als Beispiel wurden als Auftragswerk Thomas Jennefelts „Gesänge am ersten Abend des Krieges“ uraufgeführt, entstanden für den Kammerchor Saarbrücken. Der schwedische Komponist hat als Anlass für sein nur aus Vokalisen bestehendes und dadurch um so unmittelbarer ansprechendes Werk die Situation kurz vor dem letzten Irakkrieg genommen. Kollektive Fassungslosigkeit, unterdrückte Angst und Resignation prägen die in Aschaffenburg uraufgeführten Sätze „Lamento“, „Wiegenlied“ und „Elegie“. Möglicherweise ist es als Zeichen für eine neue Suche nach Aktualität in der Chormusik zu werten, wenn sich ein Komponist in seinem Werk mit der aktuellen politischen Lage auseinander setzt. Viel Aufmerksamkeit erregte auch das ins Aschaffenburger Programm integrierte AMJ-eigene Projekt „Komponisten schreiben für Kinder- und Jugendchöre“, denn schließlich findet die musikalische Prägung vor allem im Kindesalter und in der Pubertät statt. In einer Gesprächsrunde diskutierten Veranstalter, Dirigenten, Komponisten, Besucher und Chorteilnehmer über die vier am Vorabend uraufgeführten, höchst unterschiedlichen Werke. Unter ihnen stachen vor allem die sieben Nonsense-Gesänge nach Gedichten von Ernst Jandl hervor, die der griechische Komponist Minas Borboudakis für den Münchner Kinderchor Viva Vocina geschrieben hat. Borboudakis verschonte die Sängerinnen und Sänger im Alter von 9 bis 13 Jahren weder mit Summflächen, Clustern oder Sprechpassagen noch mit graphischer Notation – und hatte damit Erfolg. „Am Anfang haben die Kinder gesagt „Au, das ist ganz verrückte Musik“, aber wenn sie gehört haben, wie das klingt, waren die völlig dabei“, erzählt Borboudakis aus seinen Probenerfahrungen mit dem Chor. Das übrige Konzertprogramm schlug einen großen Bogen über das 20. Jahrhundert: Die Eröffnung übernahmen Profis, das SWR Vokalensemble unter Gary Graden, das Renaissancemusik im Wechsel mit zwei der zahlenmäßig raren Chorsätze von Wolfgang Rihm sang; den Beschluss machten Alfred Schnittkes ungeheuer klangintensive „Bußverse“ aus dem Jahr 1988. Fast noch archaischer und stärker am Sprachrhythmus des Textes orientiert wirkte Günter Bialas‘ 1961 entstandenes zentrales Chorwerk „Im Anfang“ über die Schöpfungsgeschichte in der Übertragung von Martin Buber, gesungen vom Münchner via-nova-chor unter Kurt Suttner. Der stimmlich und schauspielerisch hervorragende Mädchenchor Hannover von Gudrun Schröfel und der Konzertchor Darmstadt mit Wolfgang Seeliger als Dirigent hatten es mit einem Programm, das beim Nestor der Neuen Musik Arnold Schönberg begann und mit einem Werk des 1960 geborenen Hans Schanderl endete, dagegen auf einen Querschnitt angelegt. Und schließlich gab es auch noch ein Late-Night-Konzert mit der auf Avantgarde setzenden „SCHOLA Heidelberg“ und (tatsächlich, Instrumentalisten!) dem ensemble aisthesis unter Walter Nussbaum. Klar wurde bei den ersten „Tagen der Neuen Chormusik“ in Aschaffenburg vor allem eins: Die Chorszene blüht und gedeiht, nur leider immer noch zu weit abseits der öffentlichen Wahrnehmung. Welche Möglichkeiten gibt es für eine bessere Außenwirkung für den Chorgesang? Georg Grün, Leiter des hervorragenden Amateurensembles Kammerchor Saarbrücken, der den Glauben ans Geldverdienen mit Neuer Musik realistischerweise längst aufgegeben hat, fasste nach der Uraufführung des Jennefelt-Werks in der nicht eben üppig besetzten Aschaffenburger Stadthalle seine Erwartungen so zusammen: „Wenn der Raum voll ist in zwei Jahren, dann haben wir schon was erreicht.“
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