Weimar erscheint als der rechte Ort, um über „das vertrackte Verhältnis von Tradition und Neuerung“ nachzudenken, über „Bewahrung und Veränderung – kurz, über den gegenwärtigen Kulturzustand und Zeitgeist“. Und immer wieder über Historisches. Nike Wagner hat sich auf ein schwieriges Pflaster eingelassen. Die Erwartungen der Politiker, die das Weimarer Kulturleben besonders fördern, und die des Publikums vor Ort, das möglichst zum Nulltarif genießen will, treten ebenso weit auseinander wie museal-kulturkonservative Erwartungen und moderne Aufgeschlossenheit der Gäste von auswärts: „Das ist alles nicht ganz leicht. Unsere Zeiten sind nicht sehr günstig für Festspiele – der Staat zieht sich ständig zurück aus der Kultur-Subvention. Man muss irgendwo mitten hindurch – ich gehe trommeln, ich gehe betteln, ich werbe auch mit dem alten Namen Weimar im Rücken für ein Festival. Gerade hier in Weimar ständig die Moderne anzuschieben, macht Spaß, da es die Moderne hier immer schwer gehabt hat.“ Die Stadt mit dem wechselvollen politischen Schicksal und die besondere kulturelle Aura wurden seit 1990 weitgehend und fast immer vorbildlich restauriert: Die Ortschaft, in der die Verfassung der ersten deutschen Republik ausgehandelt wurde und die der Zwischenkriegszeit den Namen gab, erscheint als tadelloses Freilichtmuseum. Das muss nun mit historischem Sinn und aktuellem politischem Verstand, nicht nur in Opulenz und Genussfreude bespielt werden. An Schrecken und Verderben, die Verbrechen im Lager Buchenwald direkt oberhalb der Stadt, sollte das Eröffnungskonzert erinnern. Es wurde aus gutem Grund nicht am „Originalschauplatz“ im ehemaligen nationalsozialistischen Konzentrations- und sowjetischen Gefangenen-Lager ausgerichtet, sondern mitten in der Stadt im Kongress-Zentrum – an einem neutralen Ort, der die fast ungeteilte Konzentration auf die Musik erlaubt. Dass aber nichts im „pèlerinages“-Programm sich auf den Kontinent der antifaschistischen oder antistalinistischen Musik bezog, erschien als postmoderne Volte: Optimistisch und „lebensbejahend“ sollte die Musik sein, die da nach so langer Zeit erinnert. Vor Gustav Mahlers „Lied von der Erde“ tat dies die Koppelung des durch die Nazi-Zeit besonders kontaminierten „Lohengrin“-Vorspiels von Urgroßvater Richard Wagner mit György Ligetis „Atmosphères“. Marc Albrecht (als Sohn des früheren Weimarer GMD George-Alexander Albrecht) durchmaß sie mit der ortsansässigen Staatskapelle. Der Geist des in Weimar zeitweise zur Ruhe gekommenen umtriebigen Franz Liszt war höchst präsent: Junge Russen stemmten sein Es-Dur-Konzert in den luftig frischen regnerischen Schlosshofabend (und von nebenan drang schon die Rockband gewaltig herüber, die den Weimarern zum plebiszitär akzeptierten Tanz aufspielte). An Liszt als Mann der entschiedenen Moderne des 19. Jahrhunderts, des Fortschritts, der Zukunft, erinnerte nicht nur die Eröffnungsmatinee mit einem brillanten Vortrag der Festspiel-Intendantin. Marc-André Hamelin zelebrierte und beschleunigte die „Suisse“-Bilder aus Liszts „Années de pèlerinage“. Im Nachtprogramm und vor Ken Russels auf Großbildleinwand präsentierter „Lisztomania“ wurde die mediale Aufbereitung der auf zwei Klaviere übertragenen Dante-Symphonie präsentiert. Sunnyi Melles las mit etwas schwacher Stimme die Verse, auf die sich die symphonische Dichtung bezog. Zu diesem Melodram kamen bewegte Bilder. Sie operierten mit den von Liszt bei Bonaventura Genelli in Auftrag gegebenen Illustrationen in ihrer schwülen Weiterentwicklung durch Gustave Doré: Von Charon mit dem Ruder bis zu den Engelsscharen doppelten und kontrapunktierten sich Texte, Töne und Bilder zur großen Himmelfahrt. Die erschien durchaus geschmackvoll und exquisit. Und am nächsten Morgen ein von politischen Heimwehgedanken genährter Frühschoppen der ehemaligen Herren und Damen der Geschichte, die sich zu Bürgern in einer unterschiedlich demokratisch verfassten Gesellschaft promovieren mussten: Prinz Michael vom einst ortsansässigen Geschlecht lud ein paar Standesgenossen und Rolf Hochhuth zum Disput. Später wurde sogar das Wandern wieder zur Kunstform geadelt – mit klingendem Wort und Spiel ging es von Oßmannstedt zu Goethes Gartenhaus oder zur Liszt-Orgel nach Denstedt. Vielleicht ist auch da der Weg das Ziel.
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