Das neue Erfurter Theater wurde vor zwei Jahren mit einer neuen Oper eingeweiht („Luther“ von Peter Aderhold), und auch weiterhin will das strategisch günstig gelegene Haus mit neuen Werken punkten. Zum Saisonauftakt konnte es sogar prunken: Mit der Uraufführung einer Auftragsarbeit, die der prominenteste unter den lebenden amerikanischen Komponisten ausführte: „Waiting for the Barbarians“. Das von Christopher Hampton eingerichtete Libretto basiert auf einem Roman des 1940 in Kapstadt geborenen Schriftstellers und Übersetzers John Marie Coetzee, der sich 1980 mit den Problemen eines Landes wie Südafrika befasste: Damals suspendierte es wesentliche demokratische Regularien angesichts befürchteter Angriffe durch Nachbarvölker, deren Lebensräume in der Vergangenheit brutal eingeengt und deren Angehörige diskriminiert, misshandelt und getötet wurden. Wahrscheinlich geht man auch nicht ganz falsch in der Annahme, dass Glass jetzt weniger die politische Situation des tiefen Südens vor einem Viertel Jahrhundert im Visier hatte, sondern eher das Verhältnis des Staates Israel zu den Palästinensern und insbesondere eine für bedenklich erachtete Entwicklung in seinem Heimatland, den USA. Philip Glass schrieb eine Anti-Folter-Oper. Man kommt kaum umhin, sie vor dem Hintergrund der Gefängnis- und Lagervollzugsmethoden der Vereinigten Staaten zu sehen und zu hören – als Zeichen des guten Willens für den kritisch-wachen Geist eines „anderen Amerika“. „Waiting for the Barbarians“ – das ist der wahrscheinlich nicht sonderlich fiktive Bericht von dem Leben eines Mannes, der als Präfekt in einem nicht näher genannten Land zwar einerseits der (weißen) Oberschicht und deren Repressionssystem angehört, anderseits ein Herz für die einfachen Leute aller Couleur hat. Er ist ein ganzer Kerl und lässt sich junge Frauen zuführen. Doch mit dem Aufmarsch der eigenen Armee in der Grenzstadt, in der er seines Amtes waltet, fangen seine Probleme an – jenseits der Grenze sollen „die Barbaren“ sich zusammengerottet und Angriffe vorbereitet haben. Die Militärs wollen sie in die Berge zurückbomben und fangen in den Tälern schon einmal mit Säuberungen an, verhaften, foltern und morden. Der moralisch kerngute Präfekt gerät zwischen die Fronten, wird vom eigenen System verfolgt, erniedrigt, gedemütigt, angespuckt und auch nach dem fehlgeschlagenen Militärschlag gegen die „Barbaren“ nicht rehabilitiert. Richard Salter, einer der erfahrensten Sänger-Darsteller des neuen Musiktheaters, verschafft dem Repräsentanten des richtigen Lebensentwurfs in einer falschen Welt mit seiner starken Stimme und gestischen Noblesse in Erfurt Profil und Format. Die neue Oper von Philip Glass erscheint politisch vollständig korrekt. So klipp und klar sie das Unrecht anprangert und Mitleid mit den Verfolgten und Geschundenen beweist, so klar und eindeutig setzt der Regie führende Intendant Guy Montafon das Evangelium der guten Gesinnung um: Schon zu beginn hängen zusammengeschnürte Leichen über der von George Tsypin entworfenen Wüstenlandschaft, die sich durch das Auf und Ab von mehreren Vorhang-Zügen entwickelt und mit einer wüsten Stadtlandschaft alterniert. Das Foltern mit Schlägen und Tritten, Baseballschlägern und schweren Hämmern wird anschaulich vor Augen geführt; von der Anwendung der heißen Gabeln sogar in den Augen wird zum Glück nur gesprächsweise berichtet. Fortdauernd schweben und baumeln die Mumien als Mahnmahle für staatlichen Terror. In der Tiefe leisten der Chor und das Philharmonische Orchester höchst präzise Arbeit beim Etablieren der fein strukturierten Klangflächen, nehmen sich im Dienst des motorisch disziplinierten Ausdrucks zurück und heben die hymnischen Melodielinien strahlend empor. Der von Dennis Russell Davies mit hohem Perfektionsgrad geleitete Premierenabend lehrte, dass es unterhalb der demokratischen Mäntel der auf die westlichen Werte verpflichteten Staaten die Lizenzen zum Foltern gibt. Die zum Nerven mit Minimal music ohnedies. Die Erfurter aber waren ganz aus dem Häuschen, dass von einem der nobelsten Häuser ihrer Stadt nun dieses Signal ausgeht. Frieder Reininghaus |
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