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Berichte

Warten auf das nächste Jahr

Die Salzburger Festspiele · Ein Rückblick von Gerhard Rohde

Über den Salzburger Festspielen 2005 lag eine seltsame Atmosphäre. Fanden sie überhaupt statt? Unentwegt sprachen die Leute, Besucher, Künstler, Einheimische, über das Kommende: den nächsten Intendanten Jürgen Flimm, der im Herbst 2006 Peter Ruzicka ablöst, und natürlich vor allem über das Mozartjahr 2006, das alle zweiundzwanzig Opern des Meisters auf die verschiedenen Spielstätten bringen wird. Eine von diesen, das ehemalige Kleine Festspielhaus, das dann „Haus für Mozart“ heißen wird, konnte man nach dem rigorosen Neu-und Umbau schon jetzt zumindest beim Hinausgehen aus der Felsenreitschule betreten. Es roch noch stark nach Rohbau und Zement, und was man sah, erweckte vorerst wenig Begeisterung. Abwarten. Auch der Zuschauerraum der Felsenreitschule präsentierte sich verändert, die Sitzreihen steigen nach hinten immer steiler in die Höhe. Die Akustik scheint verbessert gegenüber früher. Auf jeden Fall gibt es bessere Sicht von allen Plätzen auf die Bühne. Und den Residenzhof überwölbt wieder das Zeltdach aus der Mortier-Ära. Bei gutem Wetter wirkt das Raumarrangement südlich-heiter, licht und hell, bei Regen grundiert das prasselnde Geräusch die Musik mehr oder weniger störend.

 
„Die Netrebko“ als Violetta und Roland Villazón als Alfredo auf der symbolträchtigen Uhr. Foto: Oswald
 

„Die Netrebko“ als Violetta und Roland Villazón als Alfredo auf der symbolträchtigen Uhr. Foto: Oswald

 

Auf der Residenzhofbühne war Mozarts „Mitridate, Re di Ponto“ in einer neuen Inszenierung zu sehen, in der Felsenreitschule Franz Schrekers „Die Gezeichneten“ und im Großen Festspielhaus Mozarts „Zauberflöte“ sowie als Wiederaufnahme „Cosi fan tutte“. Alles Genannte aber wurde bis zur Bedeutungslosigkeit überschattet vom medialen Großereignis, das einzige, über das man auch in diesem Festspieljahr unentwegt sprach: Anna Netrebko, die Verdis „La Traviata“ sang und spielte, assistiert vom Tenor Rolando Villazón und vom Bariton Thomas Hampson als Alfredo und Giorgio Germont. Das Drumherum um diese drei Superstars nahm alle Züge des Hysterischen an, darüber war ja genug in der jeweiligen Tages-und Regenbogenpresse zu lesen. Und live im Fernsehen zu verfolgen. Konzentrieren wir uns deshalb auf die Aufführung auf der Bühne.

Regisseur Willy Decker und sein Bühnenbildner Wolfgang Gussmann umschlossen die riesige Spielfläche der Großen Festspielhausbühne mit einem hohen, weißen Rundhorizont, links mit einer großen Tür, als Rundumlauf eine niedrige runde Sitzbank. Eine riesige mobile Bahnhofsuhr gewann im Laufe der Handlung an zeichenhaft-symbolischer Bedeutung, ebenso dienten mehrere moderne Sofas als bewegliche Requisiten. Im Landhausbild waren sie mit geblümten Überzügen zu sehen: Ach ja, zum jungen Glück gehören Blumen. Wenn Violetta Valery ihren schmerzhaft-leidvollen Verzicht auf den geliebten Alfredo besingt, zieht sie die Blütenträume wieder von den Sofas ab: Ach ja, Symbol. Willy Deckers Imaginationen kommen immer häufiger plattfüßig daher.

Anna Netrebko nutzt die Bühnenspielwiese für eine fast perfekte Zurschaustellung ihrer Fähigkeiten. Zart und zerbrechlich erscheint ihre schmale Gestalt im kurzen roten Kleidchen zum Vorspiel in der hohen Tür. Sie wankt, stockend nähert sie sich einem alten Mann, der seitlich auf der Rundbank sitzt. Es handelt sich um Verdis Doktor Grenvil, der hier weitere Funktionen ausübt: Als eine Art Zeitmesser mit der großen Uhr stellt er die Noch-Lebenszeit Violettas immer wieder ein – das personifizierte Memento mori: Denk an den Tod. Die Idee besitzt als Leitmotiv für die Inszenierung sogar eine stille Poesie. Luigi Roni präsentiert die Figur auf ruhig-würdige Art. Dann kommt Stimmung auf: Zwei, drei Dutzend befrackte Mannsbilder tragen die hoch auf einem roten Sofa platzierte Dame Violetta in die Spielarena: heißt diese plötzlich Hanna Glawari, die pontevedrinische lustige Witwe, die sich in Paris noch nicht so recht akklimatisiert hat, wie sie im Auftrittslied verkündet? Anna Netrebko spielt das Double mühelos mit: Sie rennt und räkelt sich, wirft die hübschen Beinchen hinter und vor sich, spreizt sie keck über Sofalehnen – Verdis traurig-umflorte Lebedame, scheint sich inmitten flotter Revuegalane pudelwohl zu fühlen mit ihrer erotischen Gymnastik. Ach ja, Anna Netrebko singt ja auch dabei. Im ersten Akt ziemlich pauschal im Ausdruck. Die Koloraturen ihrer Arie kommen eher etwas flüchtig daher. Sie ist nun einmal keine genuine Belcanto-Virtuosin.

 
Erotische Gymnastik in der Männerwelt. Foto: Oswald
 

Erotische Gymnastik in der Männerwelt. Foto: Oswald

 

Später dann ergeben sich bessere Eindrücke, vor allem im Zusammenwirken mit Partner Roland Villazón, der nun wirklich vorführt, wie man eine dramatische Figur ausformt: vokale und spielerische Gestik befinden sich im perfekten Gleichgewicht, die dramatis personae wird aus der vokalen Linie, aus dem vorgezeichneten gesanglichen Ausdruck entwickelt, nicht von außen aufgesetzt. Anna Netrebko schafft das erst am Ende, da vernimmt man auch Töne einer persönlichen Betroffenheit, einer seelischen Identifizierung mit der darzustellenden Figur. Auch von Thomas Hampson als Vater Germont könnte sich Anna Netrebko etwas mehr von dieser Identifizierungsintensität abschauen.
Die Inszenierung als solche verriet im großen und ganzen Willy Deckers routinierte, sichere Regiehand. Aber es bleibt, wie immer die Frage: Was vermittelt sich eigentlich noch von einem Konflikt, der sich in einer anderen historischen Situation abgespielt hat, wenn man diesem Konflikt den historische Faltenwurf nimmt? Violetta im Minikleidchen, ließe die sich noch von einem familienehrpusseligen Papa von ihrem Lover abbringen? Inszenierungen wie diese rauben dem Werk die tragische Fallhöhe, die Aktualisierung endet mit der Nivellierung von Handlung und Figuren, und letztlich auch der Musik, was hier nicht besonders auffiel, weil die Wiener Philharmoniker unter Carlo Rizzi so spielten, wie in der x-ten Repertoirevorstellung daheim im Haus am Ring – mit anderen Worten: routiniert und uninspiriert, unwillig, sich mit Verdis Partitur für das Festspiel zur Abwechslung einmal wieder von vorn, Note für Note, Zeichen für Zeichen zu beschäftigen.

Einen etwas günstigeren Eindruck vom Orchester erhielt man in der Neuinszenierung der „Zauberflöte“, die Riccardo Muti dirigierte. Mutis Darstellung der Oper zeichnete sich durch Leichtigkeit, Biegsamkeit und sogar Eleganz des Vortrags aus. Kantabilität und Spirituoso befanden sich in bester Balance. Der Sarastro-Sphäre wurde das Feierlich-Pompöse ausgetrieben, die Gefühlsmomente speziell der Pamina-Szenen kostete Muti intensiv aus. Gleichwohl: Mutis Musizieren besitzt meist auch eine gewisse Gepflegtheit, die man durchaus als gehobene Langeweile empfinden darf. Dass sich der Dirigent Muti, stets Gegner irgendeines halbwegs aktuellen Musiktheaters, ausgerechnet den englischen Regisseur Graham Vick als Partner erkor, verwunderte doch sehr. Tamino in Turnschuhen und Sportleibchen, der im Kinderzimmer auf dem Ikea-Bett liegend eine Schlange kriechen sieht, vor der ihn die drei Damen, die im Tapetenmusterkostüm aus der Tapetenwand steigen, erretten – solche Einfälle müssten doch einen Muti zur sofortigen Abreise veranlassen.

Graham Vick sieht in der „Sarastro“-Sozietät vor allem das Problem unserer gegenwärtigen Überalterung: Man sieht eine taperige Männerwohnheimgesellschaft, die auf die genetische Wunderbehandlung hofft, damit auch sie wieder Turnschuhe tragen kann. Grahams Versuch, der „Zauberflöte“ mit Fantasy-Gags beizukommen, reicht nirgendwo aus, die Widersprüche und Brüche des „Machwerks Zauberflöte“ angemessen zu reflektieren. Im oft wirren Quiproquo der Aktionen und Bilder schlagen sich die Sänger tapfer und sogar mit Erfolg: Michael Schades Tamino und Genia Kühmeiers Pamina singen stilvoll und empfindsam. Statt Feuer- und Wasserprobe müssen sie am Ende ein Russisch-Roulett-Duell überstehen. René Papes Sarastro wirkt inmitten seiner Rentnerbande noch relativ vital, auch stimmlich. Anna-Kristia Kaapolas Königin der Nacht meistert die Gratwanderungen der Partie akzeptabel, mehr nicht.

Einen nicht minder disparaten Eindruck hinterließ die neue Inszenierung von Mozarts „Mitridate, Re di Ponto“ durch Günter Krämer und Jürgen Bäckmann. Krämer lässt die Sänger-Darsteller fleißig ihre unzähligen Arien (nicht einmal alle) und psychischen Befindlichkeiten vor einer mobilen Türwand auf der Vorderbühne ausagieren und singen, während auf einer Oberbühne kuriose Mozart-Puppen-Menschen in hohen Spiegeln putzige Tänze und Sprünge zwischen den Nummern vollführen. Mitridate (bissartig-böse Richard Croft) als wütender Troupier, der, kaum haben ihn die Römer schwer geschlagen, daheim als zweite Front seine Söhne Farnace und Sifare im Buhlen um die Gunst der Verlobten Aspasia vorfindet – das schreit geradezu nach Aktualisierung à la Naher Osten oder sonstwo auf der Welt. Was kümmert es, dass es sich beim alten Konflikt vorwiegend um Liebesscharmützel und nicht um Ölfelder handelt? Solche szenisch-optischen Übersetzungen alter Stücke wirken inzwischen vor allem abgestanden und ermüdend. Marc Minkowski arbeitet mit seinen Musiciens du Louvre-Grenoble oft heftig gegen die szenische Monotonie an, führt auch die Sänger umsichtig und geschmeidig durch ihre Arienstrudel: Miah Persson als Sifare und Ingela Bohlins Ismene sowie der Countertenor Bejun Mehta als Farnace sichern vokal ein gutes Niveau.

Als Peter Ruzicka vor vier Sommern die Leitung der Salzburger Festspiele übernahm, betraf eine seiner insgesamt fünf Programmsäulen die Werke der im Dritten Reich verfemten Exilkomponisten. Nach Alexander von Zemlinsky (König Kandaules), Egon Wellesz (Die Bakkantinnen, leider nur konzertant) und Erich Wolfgang Korngold (Die tote Stadt) gab es jetzt als Abschluß der durch Ruzickas schnellen Abgang von der Salzburger Bühne recht kurz geratenen Reihe noch eine Franz Schreker-Retrospektive mit dessen Oper „Die Gezeichneten“ im Mittelpunkt. Schrekers „Gezeichneten“ lassen sich heute angeblich nicht mehr als das Renaissance-Drama aus dem 16. Jahrhundert spielen, als das es der Komponist selbst sich erdacht hat. Warum eigentlich nicht? Es gibt in der Renaissance Ereignisse und Erzählungen, die in ihrer Ungeheuerlichkeit manches von heute noch übertreffen. Kein Geringerer als der französische Schriftsteller Stendhal bewunderte die Renaissance-Zeit deshalb, weil sie in dieser Hinsicht so weit über das kleinmütige bürgerliche Zeitalter seiner Jahre hinausragte. Er schwärmte vom Mut zur großen Tat, die durchaus eine schreckliche sein durfte. Aus alten Chroniken hat er deshalb viele dieser Geschichten gesammelt und neu erzählt. So könnte man sich also durchaus auch Schrekers Imaginationen über Sexualität und Perversionen ungebrochen auf die Bühne übersetzt vorstellen.

Hans Neuenfels (1979 in Frankfurt) und Martin Kusej (2002 in Stuttgart) haben die ungekürzte Oper in eigenen und eigenwilligen Deutungen neu und in sich geschlossen szenisch übersetzt. Die Salzburger Aufführung entzieht sich solchen Vergleichen schon durch die Tatsache, dass der Regisseur Nikolaus Lehnhoff erhebliche Kürzungen des Stücks vornahm, die zum Teil Schreker-signifikante Elemente wegstrichen. Den verwachsenen Alviano zum Transvestiten, ohne Fratze und Buckel, umzuschminken, erscheint als Vergegenwärtigung denn doch allzu flach gedacht und umgesetzt, auch wenn Raimund Bauers zersprungener, riesiger Frauenkopf der Felsenreitschulen-Bühne eine imposante Kulisse gibt.

So musste die Musik die Aufführung halbwegs retten. Kent Nagano suggeriert mit dem gut disponierten Deutschen Symphonie-Orchester Berlin fast so etwas wie Geschlossenheit der Werkgestalt. Robert Brubaker als Alviano, Wolfgang Volle als Tamare und Anne Schwanewilms als Carlotta sichern der enttäuschenden Produktion wenigstens vokal einen akzeptablen Festspielrang. Eigentlich müsste man von den Salzburger Festspielen gerade in solchen Fällen etwas erwarten, was man früher Modellaufführung nannte. Die Zeiten sind wohl vorbei.

Gerhard Rohde

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