Nicht anders als das St. Petersburger Mariinsky Ballett, das hier
im März mit „Giselle“ in drei verschiedenen Besetzungen
gastierte, trumpfte auch das Bolschoi zuerst mit seinen Nachwuchsstars
auf. Und die erwiesen sich, genau wie bei den Petersburgern, als
die richtigste Besetzung: Natalia Osipova (Kitri), 23, ein Gesicht
wie Schneewittchen, zierlich wie eine Meißener Porzellanfigurine,
gestochen schnell auf Spitze, verschenkt noch in der schwierigsten
Ballett-Figur ein hinreißendes Lächeln; Ivan Vasiliev
(Basilio), erst 19 (!), ebenfalls attraktiv, federt phänomenale „grands
jetés“, blitzrapide gedrehte Luftgrätschen und
Flitz-Manegen über die Bühne, als wär‘s ein
Fingerschnippen. Solisten haben eine gewisse Freiheit, die vorgegebene
Solo-Variation persönlich zu gestalten – je nach technischem
Vermögen. Was alles dieser nicht sehr große, aber mit
Wunder-Muskeln ausgestattete Tänzer an Drehungen und Battierungen
in seine „Flugsprünge“ einbaute – das Auge
konnte es so schnell gar nicht fassen. Dass die beiden obendrein
körperlich und in ihrer Spielfreude so wunderbar harmonierten,
machte das Tanzglück voll.Gegen so viel Jugend, Charme, Frische
und atemberaubende Virtuoso-Technik – der viel gerühmte
Bolschoi-Bravoura-Stil in Reinkultur – kamen die beiden reiferen
Paare Marianna Ryzhkina und Juri Klevtsov sowie Maria Alexandrova
mit Sergey Filin, nicht an. Vor einem allzu bunten Kitschpostenkarten-Hafen ist das ein Gewimmel von Jungvölkchen, Straßentänzerinnen und Tücher-schwingenden Toreros. Was bei dem noch auf zaristische Hierarchie und Geometrie bedachten Petipa filigranes Divertissement war (enttäuschend reizlos die Dryaden-Szene mit immerhin einem fußflinken Cupido von Nina Kaptsova), ist nun aufs Imponieren angelegte Massen-Szene, zu des öfteren lärmigem Minkus. Mit seinen massigen folkloristischen Aufmärschen, seinen bühnenfüllenden Fandangos haftet diesem „Don Q.“ noch der Monumental-Geschmack der Sowjetzeit an. Aber die „danse de caractère“, immer schon eine Stärke der Bolschois, wird hier in einem ganzen Fächer von spanischen Tänzen entfaltet, mit und ohne Kastagnetten. In Erinnerung bleibt vor allem der vom Mariinsky übergewechselte charismatische Andrej Merkuriew, der den Part des Stierkämpfers an den drei Abenden zu einem tänzerischen Blickfang machte. Nichts zum Nur-Zurücklehnen und Genießen dagegen war der Auftakt-Zweiteiler: Denn Amerikas berühmteste Dance-Minimalistin Childs und der legendäre Neoklassiker MacMillan (1929-92) als Premieren-Gespann, das war Tanz kompakt und zugleich eine intensive Geschichtsstunde. Kaum noch vorstellbar, dass 1965 MacMillans Vorschlag zu diesem Mahler-Ballett vom Londoner Royal Ballett als „Sakrileg“ abgelehnt wurde. Nach der gefeierten Uraufführung beim Freund John Cranko in Stuttgart wurde das Ballett auch beim 1966 nachziehenden Royal ein großer Erfolg. Mahlers Weltschmerz, seine feinsinnig-schwerblütige Musik entsprachen ganz dem Einzelgänger und Melancholiker MacMillan. Zu den sechs Liedern über Frühling, Herbst und Abschiednehmen, inspiriert von Hans Bethges Nachdichtung altchinesischer Lyrik, entwarf MacMillan assoziative Ensemble-Szenen um drei symbolische Figuren: den Mann, die Frau und den Ewigen. Dieser Bote des Todes – sehr präsent von Tigran Mikayelyan –, ein ständiger „Lebensschatten“, führt am Ende Mann und Frau zusammen. In dem langen Pas de deux für das Liebespaar erlebt man MacMillans große Kunst: die hochmusikalische Einswerdung von Komposition und Choreografie. Und bei der feingliedrigen, verinnerlichten Lucia Lacarra stellt sich das ein, was MacMillan wohl anstrebte: eine Entmaterialisierung seiner Tanzsprache, eine Transformation zur Poesie des reinen Ausdrucks. Nur dieser sechste Satz, zusammen vielleicht noch mit dem ersten und zweiten, das hätte genügt, hätte diesen Abend kostbarer gemacht. Denn Jadebrücken, spiegelnde Teiche, breitbeinige Reiter und torkelnde Trinker, kurz all die halb-realistisch die Gedichttexte nachbildenden Tanzmomente sind doch sehr den 60er-Jahren verhaftet. Dreißig Jahre später sieht der Tanz anders aus. Bei der postmodernen Childs sind die Frauen keine anmutigen Lotosblüten mehr. Sie werden wohl auch in waghalsigen Hebungen von den Männern hochgestemmt – aber nicht in Verehrung, sondern zum gemeinsamen kühl-eleganten artistischen Akt. Selbst auf Spitze sind sie Gleichberechtigte, durchmessen wie die männlichen Kollegen den lichten bildnerischen Raum in hochdynamischen Schritt- und Drehfiguren, die über Childs‘ stets bis in die Kulissen entgrenzte Bühne flocken. Hier ist keine Zeit für große Gefühle. Hier herrscht permanente „rush hour“. Die Sprache der Childs und die titelgebende Musik von John Adams ergänzen sich zur treffenden Metapher für eine eilige urbane Gesellschaft im Fitnesswettbewerb mit sich selbst. Kompetent, aber nicht mehr, der von Kent Nagano höchstpersönlich empfohlene Gastdirigent Ryusuke Numajiri. Das Staatsballett war bei der Premiere noch nicht ganz auf seinem Top-Niveau. MacMillan und Childs, beide auf ihre Weise tanztechnisch höchst vertrackt, sind eben erst recht für die Tänzer ein forderndes Kontrast-Programm. Malve Gradinger
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