Der entweder museale oder rein kommerzielle Umgang mit Oper rührt auch von der herrschenden Praxis her. Italien unterliegt bis heute weitgehend dem Stagionesystem; die Stagione bezeichnet das Gegenteil zum deutschen Repertoirebetrieb. Es gibt nur eine begrenzte Zahl von Neuinszenierungen pro Spielzeit, die in einer Serie von acht bis zehn Aufführungen laufen und dann abgesetzt werden. Diese geringe Ausnutzung aufwendiger Inszenierungen ist unrentabel gegenüber jahrelang im Spielplan verankerter Aufführungen. Tradition verbindet sich hier aber mit Notwendigkeit, denn mittlere Opernhäuser antiker Städte wie Bologna oder Florenz verfügen nicht über entsprechend große Magazine, um den Fundus jahrelang einzulagern. Dem Opernalltag des Nordens steht so der Opernsonntag des Südens gegenüber: Oper als ästhetischer Sonderfall vergangener Kultur hier gegen Verlebendigungsvielfalt wie Aktualisierungssucht dort. Als Kompromiss zwischen Stagione und Repertoire stehen allerdings die Koproduktionen, also Inszenierungen, die zwischen den Bühnen hin- und herwandern, ver-, und angekauft werden. So schickte man zwei Jahrzehnte aus touristischen Gründen die Mega-aufführungen der Arena di Verona in die Berliner Deutschlandhalle; umgekehrt kann man die einst erfolgreiche Liebe zu den drei Orangen-Produktion der Komischen Oper und andere Inszenierungen nördlich der Alpen noch in Mailand, Genua und Neapel sehen. Auch die ersten beiden Ring-Teile „Rheingold“ und „Walküre“ beim diesjährigen Maggio Musicale Fiorentino in der Inszenierung der katalanischen Eventtruppe „La Fura dels Baus“ laufen in Koproduktion mit Valencia. So gleichen sich in einer Mischung von Repertoire und Stagione Europas größere Opernhäuser aneinander an: die Mailänder Scala etwa modifiziert ihr System mehr und mehr hin zum Repertoiretheater, während umgekehrt die Wiener Staatsoper einer Semi-Stagione zustrebt. Doch den Preis für wachsende Urbanisierung zahlt die Provinz: weitgehend unbespielt bleibt die Vielzahl wunderschöner italienischer Barocktheater Mittelitaliens, die noch vor nicht zu langer Zeit vom Stagione-Wanderbetrieb lebten. Zudem unterliegt die Oper reiner Subventions-Willkür von Seiten des Staates: das der Verdi- und Toscanini-Tradition verhaftete Teatro Regio di Parma etwa wird zum Prunkmodell des Nordens ausstaffiert, während die übrigen Theater geeint werden unter dem Slogan „Fratelli di Taglio“, ein ironisches Wortspiel auf die Nationalhymne „Fratelli d’Italia“ mit dem Wortsinn „Brüder der Kulturschere“. So wundert es nicht, dass der neue GMD der Deutschen Oper Berlin,
Renato Palumbo, sich schon aus Gründen weit größerer Arbeits-chancen, die Deutschland
italienischen Musikern bietet, zu Gunsten des „nordischen“ Systems
ausspricht (Interview am 12. März 2007 mit der Berliner Morgenpost): Die Lebendigkeit der Oper gilt es jedoch gerade in dem Land zu verteidigen, wo sie ursprünglich beheimatet ist; es gilt, den renommierten und traditionsreich gewachsenen italienischen Orchestern und Opernchören eine einigermaßen gesicherte Zukunft zu garantieren. „Va pensiero“ – Italiens OpernchöreAlfredo Casella soll dem jungen Luigi Dallapiccola in den 30er-Jahren den wohl meinenden Rat gegeben haben, nicht zuviel für Chor zu komponieren, wenn er seine Musik im eigenen Land hören wolle. Damals schwankte das Repertoire italienischer Chöre zwischen Opern- und Volksmusik. Auch wenn seitdem das Niveau erheblich gestiegen und das Repertoire entsprechend bereichert ist, so lastet doch nach wie vor italienische Traditionsschwere über dem Chorgenre. Choropern oder -werke von Dallapiccola, Ghedini, Petrassi, Nono, Guarnieri und anderer Vertreter der älteren und jüngeren Moderne erfreuen sich bis heute keiner allzu großen Aufführungszahl.
Der Leiter des Mailänder Scala-Chores Roberto Gabbiani, der sich seit Jahren um ein moderneres Repertoire bemüht, spricht immer noch von einer Hemmschwelle des Opernchoristen gegenüber zeitgenössischer und erst recht experimenteller Musik. So bilde seiner Erfahrung nach in einem Stück wie Dallapiccolas „Tempus destruendi“ die reine Intonation der großen Sept kein geringes Problem. Da sich die Ur- oder Erstaufführungen schwieriger moderner Choropern in Italiens Metropolen in Grenzen halten, ist naturgemäß die Gehörschulung der Sänger bezüglich Mikrointervallen, Cluster, Glissandi et cetera weniger intensiv als vergleichsweise bei den Opernchören Stuttgarts oder Hamburgs. Umso größer ist Gabbianis Verdienst – wie auch das seines Vorgängers Romano Gandolfi – den Scala-Chor in den 90er-Jahren an Penderecki und Petrassi gewöhnt und Riccardo Muti für seine 20-jährige Mailänder Direktionszeit ein Ensemble von „gothischem“ Ausdrucksvolumen übergeben zu haben, das die Verdischen Opernchöre vom „Trovatore“ bis zum „Otello“, vor allem aber das Requiem mit bronzener Wucht interpretiert. Für diesen spezifischen Verditon sorgte natürlich bereits ein Toscanini, wenn er Vittorio Veneziani verpflichtete; Jahrzehnte später kommt es zu strengster Klangschule durch den „severissimo“ Roberto Benaglio, ein wahrer Ton-Ingenieur, wie es in der Biographie des Scala-Chores heißt. Keine SpitzengehälterNicht weniger anspruchsvoll ist oder war der Coro del „Maggio Musicale Fiorentino“, wie das berühmte Florentiner Maifestival heißt. Nach der Orchestergründung 1928 durch Vittorio Gui bildet sich der Chor 1933 unter der Leitung Andres Morosinis und entwickelt sich unter Musikern wie Gabbiani, Sicuri, Balderi und Basso zu einem der anspruchsvollsten Opern- und Oratorienchöre Italiens, der – ähnlich dem Scala-Chor – in den letzten 20 Jahren sein Repertoire auf Werke von Schönberg bis Berio und Bussotti ausgedehnt hat. Wie bei dem Scala-Chor sind die Aufnahmebedingungen recht streng; neben der vokalen Disposition und dem Prima-Vista-Singen verlangt das so genannte Librone ein Vorbereitungsrepertoire von mindestens zehn Arien. Die Bezahlung entspricht ungefähr dem eines durchschnittlichen italienischen Lehrergehalts, beträgt also circa 2.000 Euro pro Monat. Entsprechend höher eingestuft und auf Lebenszeit eingestellt werden die Chorsänger a ruolo – das bedeutet mit Soloverpflichtung (Es gibt also keineswegs „Spitzengehälter“, wie sie Jens Malte Fischer an deutschen Opernchören rügt). Ein Ensemble, das neben den großen Berufschören Roms und Neapels – etwa dem Coro dell´Accademia di Santa Cecilia- in den letzten zehn Jahren wachsende Beachtung findet, ist der Coro del Teatro lirico di Cagliari; auch er einst unter der strikten Stabführung Benaglios stehend. Zum ausgefallenen Opernrepertoire, das sich Cagliari seit Jahren zum Programm macht, trägt der Chor unter seinem jetzigen Leiter Paolo Vero seinen erheblichen Teil bei: ob Tschaikowskys „Opritschnik“, Smetanas „Dalibor“, Marschners „Hans Heiling“, Wagners „Feen“, oder – wie in diesem April „Die Vögel“ von Walter Braunfels in italienischer Erstaufführung – stets hat der farbige und klangschöne Cagliari-Chor seinen zentralen Platz in der Aufführung. Wolfgang Molkow |
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