Aber ist das „Musical“ tatsächlich nur und ausschließlich ein leichtes, ein reines Amüsier-Spektakel? Im frühen 19. Jahrhundert, bei seinen „Vorgängern“ Burleske, Melodram, Vaudeville, Minstrel-Show (ab 1800 waren die „Negro Minstrels“ beliebt, eine Art Varietétheater, in dem Weiße die Musik und den Tanz der schwarzen Amerikaner nachahmten und parodierten), bei Music Hall und schlecht übersetzten französischen Operetten, mag das wohl der Fall gewesen sein. Aber gerade die Buntheit dieser Bühnenformen, die Musik, Tanz, Stepptanz, Pantomime, Parodie, Revue, Akrobatik und Zirkus integrierten, machte die Entwicklung zum Musical erst möglich. Während in Europa die Trennung und Eigenständigkeit von Musik-, Tanz- und Sprechtheater eiserne Tradition war, hatte das kulturell-gesellschaftlich offenere Einwanderungsland Amerika kein Problem damit, die verschiedenen Gattungen zusammenzuwerfen. Als erste Produktion, die dem Musical-Konzept einer mit Musik und Tanz plausibel erzählten Geschichte entspricht, gilt „The Black Crook“ („Der Gauner in Schwarz“) (von Barras, Operti, Bickwell, Kennick), das 1866 am New Yorker Broadway uraufgeführt wurde und, trotz seiner Länge von über fünf Stunden, auf 474 Vorstellungen kam. Solche Besucher-Rekorde erreichten in London in den 1870er-/80er-Jahren vor allem die „Comic Operas“ des Texter-/Komponisten Duos W. S. Gilbert und Arthur Sullivan, die auch in New York emsig nachgeahmt wurden. Bis in die 10er-Jahre des 20. Jahrhunderts ist tatsächlich noch ein gewisser Einfluss der englischen Theaterkultur zu verzeichnen. Danach entwickelt sich das US-(Bühnen-)Musical selbständig, indem es zum einen – mit Erfindung des Tonfilms ab 1927 – Anregungen aus Hollywoods Filmmusicals aufnimmt, zum anderen neue Musikstile wie Ragtime, Jazz, Rock und (Ethno-)Pop. Und natürlich auch neue Tanztendenzen, vom Jazz- und Modern-Dance bis zu den zeitgenössischen freien Tanzformen, die osmotisch Elemente aus Breakdance, Akrobatik und der kleinteiligen Tanztheater-Gestik assimilieren. Auch inhaltlich zeigte sich das Musical offen für alle möglichen Themen, für Historisches und Aktuelles, Heiter-Komisches und Tragisches.
Heiterkeit, illusionistische Unbeschwertheit bestimmten die Musicals in den „Roaring Twenties“, in der Depression und in den düsteren Zeiten des Ersten Weltkriegs. Einem verständlicherweise zerstreuungshungrigen Publikum boten Veranstalter und Theater tanz- und melodienreiche, üppig ausgestattete revuehafte Produktionen mit eher dürftiger Handlung. Beispielhafte Musicals aus dieser Periode sind „No, No, Nanette“ (Buch: Harbach/Mandel, Musik: Vincent Youmans), „Lady Be Good“ (Buch: Bolton/Thompson, Musik: George Gershwin), beide von 1924, und „Funny Face“ (Buch: Smith/Thompson, Musik: George Gershwin) von 1927. Wenn die Handlung sich hier auch nur um komödienhafte, immer glücklich endende Beziehungsintrigen dreht, so waren diese Musicals handwerklich gut gemacht und wurden mit Stars wie Fred Astaire und seiner Schwester Adele, beide in den Gerswhin-Musicals, zu Dauerbrennern. Auf jeden Fall hatten sie eine musikalische Qualität dank Komponisten wie Youmans, Gershwin – für den sein Bruder Ira die Gesangstexte schrieb – wie Cole Porter, Richard Rodgers und Jerome Kern. Menschliche Geschichten
Mit „Show Boat“ (1927) von Kern und Oscar Hammerstein II – von ihm Buch und Gesangstexte nach Edna Ferbers gleichnamigem Roman – war, wie Historiker erklären, eine Musical-Form erreicht, in der sich zum ersten Mal Musik, Songs und Tanznummern ganz in den Dienst der Geschichte stellten, einer Geschichte, in der es zwar um Liebe geht, aber im Kontext ernster Beziehungsprobleme, menschlicher Schwächen und Rassendiskriminierung. Der Erfolg von „Show Boat“ inspirierte im Folgenden Komponisten und Librettisten zu thematisch belangvollen, auch gesellschaftskritischen Musicals. So war „Of Thee I Sing“ (1931) von George und Ira Gerswhin zum Buch von G. S. Kaufman und M. Ryskind eine schreiende politische Satire unmittelbar auf das Amerika der 1930er-Jahre mit seinen ausgeklügelten Wahlkampfpraktiken, Schönheitswettbewerben und der kulthaft hochgehaltenen Ehe. „Oklahoma!“ (1943) von Rodgers und Hammerstein II war nach „Show Boat“ der zweite große Meilenstein in der Entwicklung des perfekten Musicals, in dem Musik, Gesang und Tanz ausschließlich auf das Vorantreiben einer menschlich und gesellschaftlich relevanten Geschichte fokussiert waren. Die dafür engagierte bekannte Choreografin Agnes de Mille benutzte damals schon neben Tanzvokabular auch Alltagsbewegungen, welche die Personen – im Eifersuchtsstreit liegende Cowboys und Farmer – realistischer, wahrhaftiger machten. Spätestens jetzt war es selbstverständlich, dass das Genre Musical ganz ohne Nummerncharakter, ohne operettigen Schmalz auskommen, im Gegenteil ernsthafte, ja sogar tragische Themen verhandeln konnte. Von Rodgers zu Abba
Frühe Beispiele sind, unter anderen, die mit verschiedenen Librettisten entstandenen Rodgers-Musicals „Carousel“ (1945), „The King and I“ (1951), „The Sound of Music“ (1959) und „South Pacific“ (1949), letzteres nach James Micheners „Tales of the South Pacific“, das sich über seine Handlung gegen Kolonialismus und Rassenvorurteile und implizit für die Rechte und Selbständigkeit der Frau ausspricht. In der Hippie-Ära mit seiner sexuellen Befreiung spiegeln Musicals wie „Hair“ (1967) direkt die gesellschaftlichen Veränderungen, von freier und homosexueller Liebe bis zur Kritik der Jungen am Vietnamkrieg. Thematisch gibt es kein Tabu mehr. Und auch die verschiedensten Formen und „Macharten“ sind möglich: Es gibt Ballett-nahe Musicals wie „On your toes“ (1936), für das der große Neoklassik-Meister George Balanchine choreografierte; Rock-betonte Musicals wie Andrew Lloyd Webbers „Jesus Christ Superstar“ (1971) und Opern-nahe wie sein „Phantom der Oper“ (1986). Musicals werden geschrieben nach literarischer Vorlage oder nach einer Vita, wie beispielsweise die Produktionen zu dem österreichischen Popsänger Falco, dem bayerischen Märchenkönig Ludwig II. und Argentiniens Evita Perón. „A Chorus Line“ wurde entwickelt aus einer von Choreograf Michael Bennett initiierten Gruppentherapie-Sitzung. Und entlang von Songs der berühmten Popgruppen ABBA und Queen erfanden geschickte Autoren die Handlung für „Mamma Mia!“ (1999) und „We will Rock You“ (2002). Musical und Pop
Eine so breite Palette von Stilen und Inhalten stellt hohe Anforderungen an die Ausführenden. Obendrein ist die Konkurrenz groß, wie Nunzio Lombardo, zwölf Jahre Musical-Darsteller im Londoner West End, bestätigt: „Als ‚West Side Story‘ wieder im West End gespielt wurde, haben 6.000 Darsteller aus ganz Europa vorgesprochen. Außerdem werden regelmäßig Mitwirkende ausgemustert, weil die Qualität nachlässt. Bei ‚Cats‘, das 21 Jahre lief, gab es jedes halbe Jahr eine Audition und einen Wechsel in der Besetzung. Eine Show wie ‚Cats‘ konnte man ohnehin nur zwei Jahre machen, weil man ab da rentenberechtigt gewesen wäre – was die Show-Leitung so umging.“ Seit 2010 gibt der gebürtige Italiener seine Kenntnisse in seiner eigenen Schule, den Münchner Performing Arts Studios, weiter: „Über die Basis, also Gesang, Schauspiel, Ballett-, Jazz- und Tapdance-Technik, hinaus ist im Musical eine Flexibilität im stilistischen Detail gefordert: ‚West Side Story‘ nach der Vorlage von ‚Romeo und Julia‘ ist sehr realistisch angelegt, mit Tanzszenen, die in Kampf übergehen. Da musst du ein guter Kämpfer sein. ‚Cats‘nach T. S. Eliots Katzengedichten für Kinder ist eine Fantasiegeschichte, in der du dich in tierähnliche Bewegungen einfühlen musst. Und eine Pirouette aus dem Ballett-Vokabular kann entweder sehr klassisch oder verschrägt sportlich ausgeführt werden, je nach Stil und Inhalt des Musicals. Genauso in der Musik. Die Färbung einer Note, einer Melodie muss die Story widerspiegeln.“ Das Charakteristische am Musicalgesang erklärt der Experte so: „Man muss beides singen können, den klassischen Gesang und Pop. Und die Verschmelzung der beiden Techniken bringt dich auf eine neue Ebene. Du singst, während du flüs-terst oder schreist. Du beginnst eine Szene als Schauspieler, du redest, und in gleitendem Übergang wird deine Rede zum Lied, und dann geht es auch wieder zurück zum nur gesprochenen Wort. Wenn du einen Song lernst, lernst du ihn erst technisch korrekt zu singen, mit dem richtigen Stimmvolumen. Ein Schauspiellehrer hilft dir dann, den Song quasi zu sprechen. Und der Regisseur sagt dir, was du darstellen, was du fühlen musst. Als Künstler musst du allerdings deinen eigenen Weg finden.“ Und wie führt man Studenten dahin? „Wenn unsere Ausbildungsschüler die Grundlagen beherrschen, ermutige ich sie, frei zu werden, ganz sie selbst zu sein. Nur dann wird sich die Technik in Magie verwandeln.“ Malve Gradinger |
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