Berauschend und im balletthistorischen Sinne bildend waren in diesem Zusammenhang die Aufführungen von William Forsythes „Impressing the Czar“ durch das Königliche Ballett Flandern, John Neumeiers „Nijinsky“ durch das Hamburg Ballett und Mauro Bigonzettis Drama „I Fratelli“ durch die Stuttgarter selbst. Eine Wonne in diesem Reigen bildeten Marco Goeckes avantgardistischer „Orlando“ und Christian Spucks Satire „Leonce und Lena“. Neu und überfällig war, dass sich die Leitung des Stuttgarter Balletts ballettpolitisch als der „global cultural player“ exponierte, der sie ist. Die Grafik im Opernhaus bildete ein klares Statement: eine riesige Weltkarte, wie man sie in Magazinen von Fluggesellschaften sieht. Die Linien von Stuttgart aus zu Städten in Europa und auf den übrigen Kontinenten ließen sich schier nicht zählen. Scheinbar überall leben heute Ehemalige, die in den unterschiedlichsten Funktionen im Tanz und für ihn weiterarbeiten und ein spezifisches Wissen zur Anwendung bringen, das sie während ihrer Stuttgarter Zeit erworben haben. Ballettdirektoren trafen sichDeutlich kam dies auf der Internationalen Ballettdirektorenkonferenz zum Ausdruck, zu der Reid Anderson eingeladen hatte (siehe S. 14). Erstmals diskutierten führende Akteure aus der ganzen Welt über die Leistungen und Herausforderungen, die Spitzentänzer, in die unterschiedlichsten Tanzkulturen eingebettet, bewältigen. Spannende Fragen wie jene nach der Globalisierung eines spezifischen Ballettrepertoires und wer darüber entscheidet, wurden zumindest aufgeworfen. Ein gesondertes Alumni-Treffen legte schließlich die Seele dieser Institution Stuttgarter Ballett frei. Bei nicht Wenigen ereignete sich angesichts der überwältigenden Zahl an Wiederbegegnungen ein „emotionaler Supergau“, wie es es eine frühere Halbsolistin entwaffnend auf den Punkt brachte.
Es stellt sich die Frage: Was ist dem Stuttgarter Ballett seit Crankos plötzlichem Tod am 26. Juni 1973 gelungen, was andere Compagnien wie beispielsweise das Tanztheater der verstorbenen Pina Bausch in Wuppertal oder das Béjart Ballet Lausanne erst noch bewältigen müssen? Antworten lieferte die Jubiläumsgala. Nach erfrischenden Etüden der Schülerinnen und Schüler der John Cranko Schule und dem noblen Defilee der Compagnie in traditionellem Weiß hatte Ballettintendant Reid Anderson locker, wie es seine Art ist, das Wort ergriffen: „Das war Johns Schule“, rief er, „und das ist Johns Compagnie. John ist nicht mehr da, aber wir sind immer noch da. Und ich bin übrigens Reid Anderson.“ „Er hätte es nie anders sagen dürfen als genau so“, bestätigte Hans Gruber einen Tag später beim Essen nach dem herrschaftlichen Empfang für die Alumni im Neuen Schloss. 35 Jahre lang, bis zum Jahr 2000, hat Gruber in der Kostümabteilung gearbeitet und den männlichen Stars des „Stuttgarter Ballettwunders“ backstage in die Kleider geholfen: Richard Cragun, der während der Gala neben Marcia Haydée Platz genommen hat, Egon Madsen, der gemeinsam mit Eric Gauthier einen Ausschnitt aus ihrer berührenden Produktion „Dear John“ tanzte, Vladimir Klos, der mit Birgit Keil aus Karlsruhe angereist war. Und vielen mehr, bis hin zu Robert Tewsley oder Vladimir Malakhov. Von den Choreografen hat Gruber „alle“ erlebt: Maurice Béjart („von dem habe ich viel über Ballett gelernt“), Hans van Manen, John Neumeier, William Forsythe und Jirí Kylián („die kenn ich von klein auf“), und natürlich John Cranko. Unbedarft war er als junger Mann zum Theater gekommen. „Doch dann“, erzählt Gruber, „war das wie ein Sog. Man wurde hineingezogen und kam nicht mehr raus. Bis heute.“ Das beste Ballett Deutschlands
Wie kaum eine andere Compagnie in Europa pflegt das Stuttgarter Ballett seinen Gründungsmythos. Dieser ist, und das wird bei aller Selbstverständlichkeit vor allem von den Stuttgarter Entscheidern manchmal vergessen, unauflösbar mit der Stadt Stuttgart verbunden. Zu ihr hatte Cranko zeit seines Lebens ein liebevolles, aber auch ambivalentes Verhältnis. So war eine seiner ersten Äußerungen, in noch nicht ganz perfektem Deutsch, er wolle „aus diesem Nest das beste Ballett Deutschlands“ hervorgehen lassen. Die Beglaubigung hierfür verfasste der amerikanische Kritiker Clive Barnes wenige Jahre später während des fulminanten Gastspiels der Compagnie 1969 in New York mit seiner Niederschrift vom „Stuttgarter Ballettwunder“ in der New York Times. Nach Crankos Tod war es der damalige Generalintendant der Staatstheater Stuttgart, Walter Erich Schäfer, der das Erbe für alle zusammenfasste: „Wir alle sind jetzt John Cranko und wir werden so weiterarbeiten, als sei er immer noch unter uns“. Bis heute orientiert sich das Selbstverständnis vieler ehemaliger und aktiver Compagniemitglieder mehr oder weniger an dieser inneren Verpflichtung und Identifikation mit John Crankos Werten, Visionen, und Werken sowie an ihren ureigenen Erinnerungen. Man spürt das bei jeder Anekdote, jeder Erinnerung und Wiedervergegenwärtigung, die Auserwählte aus fünf Tänzergenerationen in Rückblicksgesprächen erzählen. Schade dabei war lediglich, dass nur wieder die meistbekannten aus der ersten Reihe der Compagnie zu Wort kamen. Das Leitbild der Familie, die beständig für ihren eigenen Nachwuchs sorgt und in der man, im Mikrokosmos des Stuttgarter Opernhauses oder in Gestalt eines weltumspannenden Netzwerks, füreinander da ist, zeigte sich hierbei auch von seiner machtvollen Seite, beim Wunsch, den Diskurs über sich beherrschen zu wollen. Nachhaltiges FührungskonzeptGeboren wurde das Leitbild der Familie durch die Person Marcia Haydées als Mutter der Compagnie. Sie übernahm 1976 die Direktion der Compagnie und ihr Verdienst war es, aus Crankos Handlungen und Visionen ein Führungskonzept zu entwickeln, von dem auch Reid Anderson in den 15 Spielzeiten seiner bisherigen Intendanz grundsätzlich nicht abweicht. Nur nahm er als Repertoireschwerpunkt die Entdeckung amerikanischer Meisterchoreografen mit auf. Bis heute sind die großen Handlungsballette und weitere Werke Crankos regelmäßig auf der Bühne zu sehen. Sei es „Romeo und Julia“, sei es „Onegin“ oder „Der Widerspenstigen Zähmung“, alle bleiben so in einem kulturellen Funktionsgedächtnis erhalten, werden quasi von Generation zu Generation weitergegeben. Wie Cranko und Haydée pflegt Anderson darüber hinaus die behutsame, strukturierte Förderung junger Choreografen. Wo diese andernorts oft kommen und gehen und ihre Kräfte verschlissen werden, setzen die Stuttgarter auf Nachhaltigkeit, wie die großen Erfolge von Marco Goecke, Christian Spuck, Douglas Lee aber auch der bereits in den Startlöchern stehende Demis Volpis beweisen, die, das darf man nicht vergessen, mit Blick in die Vergangenheit auch einem dankbar sein müssen: Denn das Tor zur Moderne in der ballettösen Tanzbewegung hatte Kurzzeit-Direktor Glen Tetley zwischen 1973 und 1976 dem Stuttgarter Ballett geöffnet. Identität, Gemeinschaft und Gedächtnis bleiben jedoch nur durch die rituelle Wiederholung performativer Akte lebendig, hat der Berliner Ritualforscher Christoph Wulf nachgewiesen. Was das bedeutet, war in den Schlussmomenten der Gala zu erleben. Den aufbrandenden Applaus beruhigte Reid Anderson mit einer Armbewegung, um das wichtigste Ritual zu initiieren, ohne das kein Balletttänzer der Welt auskommt: den Gang auf die Bühne und die Entgegennahme des Publikumsapplauses. „Das ist das Stuttgarter Ballett heute,“ ruft er dem Publikum zu und „jetzt bitte ich alle Tänzerinnen und Tänzer aus dem Publikum auf die Bühne, die jemals bei uns getanzt haben“. Auf faszinierende Weise bildet sich ein vielgliedriger, von Generationen durchmischter, gemeinschaftlicher Stuttgarter Ballettkörper, der sich mit jenen verbindet, die von den Stühlen vor ihm aufspringen und auch jene einbezieht, die nicht gekommen waren. Alexandra Karabelas
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