Unerklärlich bleibt vor allem eines: Warum wurde auch unter Bachler bislang noch kein einziges Musiktheater von Salvatore Sciarrino gezeigt, obwohl es durchaus geeignete Spielorte gäbe? Immerhin gilt der 1947 geborene Sizilianer, der in Umbrien lebt, gegenwärtig als der bedeutendste Opernneuerer weltweit, und in seinem Vokalstil schimmern verschiedene mediterrane Kulturen durch: Kaum ein anderer Komponist klingt und ist mediterraner als Sciarrino. Dennoch war man nun auch in der „niederbayerischen Provinz“ schneller als in München. Jedenfalls hat das Landestheater Niederbayern in Passau, Straubing und Landshut die erste bayerische Produktion von Sciarrinos „Luci mie traditrici“ („Mein trügerisches Augenlicht oder Die tödliche Blume“) gestemmt. Für München ist dies eine weitere höchst peinliche, schallende Ohrfeige, denn schon 2002 war die Oper bei den benachbarten Tiroler Festspielen in Erl bei Kufstein unter Tito Ceccherini zu sehen. Hieraus ist eine von mittlerweile drei CD-Einspielungen der Oper hervorgegangen, sie ist seinerzeit beim italienischen CD-Label „Stradivarius“ erschienen. Die Bedeutung dieses zwischen 1996 und 1998 entstandenen Zweiakters kann nicht genug betont werden, was vor allem für die Erneuerung des Gesangs gilt – hier gelingt sie Sciarrino erstmals originär und konsequent. Dabei geht es nicht zuletzt um eine Reflexion des Vokalstils aus der Zeit der Renaissance. Lang gezogene Haltetöne münden in eine schnelle Figuration, auch hier werden die Vokale und Affekte betont. Zugleich entsteht eine Art „neues, singendes Rezitativ“, bei dem sich Gesang und Sprechen ineinander verweben. Das Kammerensemble greift dies gewissermaßen instrumental auf, hier begegnen sich Geräuschhaftes, Klingendes und Mikrotonales. Im stillen Keuchen, Stöhnen, Ächzen und Zittern der Instrumente steigert sich wortlos das Drama. Es erinnert an die Lebensgeschichte des Komponisten Gesualdo, der einst seine Frau und ihren Liebhaber umbrachte oder umbringen ließ. Bei Sciarrino sieht ein unsichtbarer Diener (Nikolaus Meer), wie eine Frau (Mandie de Villiers-Schutte) ihren Mann (Ekkehard Abele) mit einem Gast (Countertenor Roland Schneider) betrügt. Oder ist das alles nur eine Wahnvorstellung des eifersüchtigen Gatten? Sciarrino lässt es offen, und mit dieser Reibung von Sein und Schein arbeitete auch die niederbayerische Inszenierung von Roland Schwab. Einmal sieht der Diener wie die Tapete an der Wand aus, dann wieder wie eine Zimmerpflanze – Tarnung oder Luftgestalt? Leider hat Schwab die Szenen mit Vorhang strikt voneinander getrennt, obwohl die Musik als großes Kontinuum gedacht ist. Selbst der Prolog, der eine Elegie des Renaissance-Komponisten Claude Le Jeune verarbeitet, ging nicht unmittelbar über in Sciarrinos originäre Musik. Umso staunenswerter waren die Leistungen des Orchesters: Obwohl die Musiker keine regelmäßige Spielerfahrung mit Neuer Musik haben, wurde Sciarrinos Partitur unter Kai Röhrig mit größter Sorgfalt, Ernsthaftigkeit und Liebe zum Detail packend verlebendigt. Große Hörmomente wurden geschenkt, zumal auch die Sänger ausnahmslos brillierten. Das galt vor allem für Mandie de Villiers-Schutte, die schon zuvor am selben Haus in der Titelpartie von Claudio Monteverdis „Krönung der Poppea“ brillierte, sowie für den Countertenor Roland Schneider. Bereits in der vergangenen Spielzeit war Schneider in Sciarrinos „Luci mie traditrici“ an der Oper Frankfurt zu erleben, in München kennt man ihn von Produktionen der Bayerischen Theaterakademie August Everding; hier sang er unter anderem in Peter Eötvös’ „Radames“. Und die Bayerische Staatsoper? Auf Nachfrage verriet Intendant Bachler, dass er mit Sciarrino im Gespräch sei über ein Projekt. Man wird ihn auch daran messen, ob auch dies wieder nur eine Ankündigung bleibt. Marco Frei |
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