Zur Startseite


 

 
Zur Startseite von Oper & Tanz
Aktuelles Heft
Archiv & Suche
Stellenmarkt
Oper & Tanz abonnieren
Ihr Kontakt zu Oper und Tanz
Kontakt aufnehmen
Impressum
Datenschutzerklärung

Website der VdO


Berichte

Neues Musiktheater zum Spaß-Haben

Das Weimarer Festival Passion :SPIEL

Bei der ersten Ausgabe von Passion :SPIEL, den Weimarer Wochenenden für aktuelles Musiktheater, übten Dramaturg Michael Höppner und Operndirektorin Andrea Moses im März 2022 noch. Das Angebot unterschied sich – abgesehen von der bemerkenswerten Raum-Installation „Memorial of Rebellion“ von Brigitta Muntendorf und Michael Höppner – noch nicht ganz im gewünschten Umfang von dem, was Opernhäuser an Neuerem und Zeitgenössischen oft und gern in ihren kleinen Spielstätten offerieren. Das war zur Ausgabe zwei mit dem Motto „Pop & Spiele“ vom 27. April bis 6. Mai 2023 radikal anders – betreffend Ausrichtung, Vielfalt und der ganz groß geschriebenen Interaktivität. Eine Super-Location ist das e-Werk mit seinen verschiedenen Hallen und Spielflächen sowieso. Dazu kommt, dass das Weimarer Passion :SPIEL zum Frühlingspendant der Musiktheater-Ambitionen beim spätsommerlichen Kunstfest Weimar werden könnte. Das sind schöne Aussichten für das neue Musiktheater.

„Playing Animal Farm“. Foto: Candy Welz

„Playing Animal Farm“. Foto: Candy Welz

Die Performance-Multiplizität war fürwahr zum Staunen: Auf Martin Miotks wunderbar ironischen Film „Ostrava-ganza. Die geheime Avantgarde der DDR-Stars“ mit dem Opera Lab Berlin folgte ein Auftritt der darin mitwirkenden Retro-Diseuse Désirée Nick. Als Gastspiel der Musiktheatertage Wien gab es die mit dem im Untertitel genannten Sportgerät zu erlebende Fahrradoper „Ringding“ von Thomas Cornelius Desi. Manos Tsangaris, Composer in Residence des Festivals, lieferte das musikalische Speed-Dating „Love & Diversity“. Raumbühnen-Designer Aurel Lenfert hatte für die Uraufführung von Anna Webers und Philipp Amelungsens „Playing Animal Farm“ zur „Game Show Music“ von Philip Venables allerlei landwirtschaftliches Spielzubehör bereitgestellt. Jugendliches und erwachsenes Publikum kam als Schafe, Kühe, Hühner und Schweine in die Stallungen und Gehege des ökobewussten Szenariums nach George Orwells berühmter Parabel. Es wurde dort auch sportiv gefordert, zum Beispiel durch Wettrennen zum Futtertrog.

Zu einem richtigen Spiel gehört nicht immer die dualistische Teilung in Verlierende und Gewinnende, sondern im Idealfall ein unerwarteter Ausgang nach zackig-spannendem Spielgang. Beides gab es bei Passion :SPlEL. Zum einen wurde auf Olga Neuwirths „Hommage à Klaus Nomi“ kurzfristig verzichtet. Auch Cornelius Cardews Chorperformance „The Great Learning“ entfiel.

Das alternative Projekt machte diesen Verlust allerdings mehr als wett. Chorleiter Jens Petereit und Andrea Moses durchlüfteten in der halbszenischen Chorinstallation „Singen wir aus Herzensgrund“ eine Reihe von Chorälen Johann Sebastian Bachs mit Choralbearbeitungen aus Mauricio Kagels „Chorbuch“. Der Chor wanderte, und das Publikum wanderte mit. Handzettel mit zwei Strophen und Noten zum Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“ wurden verteilt, und man durfte mitsingen. Von der Maschinenhalle des e-Werks schlängelten sich Mitwirkende und Publikumsmassen in jene theatralen Agrarflächen, wo sich die Tiere der „Playing Animal Farm“ solidarisierten und vermischten. Es kam zu Konditions- und Beziehungspannen wie bei jeder anderen „realen“ Pilgerfahrt. Andrea Moses und das Chorensemble ließen sich nicht mit letzter Trennschärfe darauf festlegen, ob es um religiös motiviertes Wandern oder Freizeitpilgerei gehen sollte. Gespiegelt wurde auch, wie universell die zum Teil für die Weimarer Kirchenkantaten entstandenen Choralsätze Bachs zur kulturellen DNA des Veranstaltungsortes und der Welt gehören. Im Spiel drückte so manchem Pilgernden der Schuh. In Miniepisoden kam es zu Erschöpfungen und leichter Verstimmung zwischen Paaren, bis sich alle auf der Spielfläche Herzensgrund wiedertrafen. Avantgarde prallte auf das kommunikative Grundbedürfnis nach Gemeinschaftserlebnissen und Kollektivgeist.

„Pop & Spiele“ setzte nicht nur in diesem Festival-Beitrag des Opernchors ein Plädoyer gegen die Vereinzelung in den Kachelräumen der Telemeetings und in der Einsamkeit der Online-Spielkonsolen. Das interaktive Musiktheaterspiel, zu dem Mitglieder der Staatskapelle Weimar in „Playing Animal Farm“ unter der Leitung von Friedrich Praetorius physische Sounds und Jingles lieferten, wuchs zu einer ernstzunehmenden Alternative gegen digitalen Video- und Entertainment-Frust. Neues Musiktheater also zum Spaß-Haben – keine schlechte Idee.

Roland H. Dippel

startseite aktuelle ausgabe archiv/suche abo-service kontakt zurück top

© by Oper & Tanz 2000 ff. webgestaltung: ConBrio Verlagsgesellschaft & Martin Hufner