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Ein Ort des Friedens

Das Kammerballett in Hamburg gibt Tänzer*innen aus der Ukraine eine Heimat

„Frieden schaffen ohne Waffen“ war einst der Appell der Deutschen Friedensbewegung. Frieden in der Ukraine scheint sich im Moment noch nicht abzuzeichnen, weshalb noch immer Menschen das Land verlassen. Sieben ukrainische Tänzer und Tänzerinnen haben nun beim neu gegründeten „Hamburger Kammerballett“ eine neue Heimstatt gefunden. Das Kammerballett ist sicherer Hafen, ein Ort der Völkerverständigung und vor allem sichtbares Zeichen einer sozial geprägten Kulturarbeit. Die ersten Aufführungen machen Lust auf mehr!

„Tanzen ist für mich eine Möglichkeit, stark zu bleiben und eine Stimme in der Welt zu haben“, sagt Anastasiia Ilnytska. Mit ihr und sechs weiteren Tänzern und Tänzerinnen, Kateryna Andrenko, Nikita Hodyna, Ihor Khomyshchak, Viktoriia Miroshyna, Aleksandr Solovei und Anna Solovei, bekommt der Krieg in der Ukraine menschliche Namen. Hört man in den täglichen Nachrichten fast ausschließlich ukrainische Städtenamen, wird dieser Krieg jetzt persönlich, menschlich und Ausgangspunkt individueller Schicksale. Diese sieben Tänzer und Tänzerinnen im Alter von 20 bis 31 Jahren aus der Ukraine bilden das Ensemble des neu gegründeten „Hamburger Kammerballetts“.

„White Noise“. Oben: Kateryna Andrenko und Nikita Hodyna. Foto: Dennis Mundkowski

„White Noise“. Oben: Kateryna Andrenko und Nikita Hodyna. Foto: Dennis Mundkowski

„Der Gründungsprozess des Hamburger Kammerballetts begann im Sommer 2022. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 und der daraus resultierenden Flucht aus ihrem Heimatland entwickelte sich unsere Vision: Wir wollen geflüchtete ukrainische Tänzer*innen in Deutschland unterstützen!“, heißt es im ersten Programmheft der neuen Compagnie. Wir – das sind der Balletttänzer Edvin Revazov, der die künstlerische und choreografische Leitung übernommen hat, und Isabelle Rohlfs, die als studierte Kultur- und Medienmanagerin mit reichlich eigener tänzerischer Erfahrung die Geschäftsführung verantwortet.

Plötzlich war Krieg und nichts war mehr so wie vorher; Angst war und ist bis heute ein ständiger Begleiter geworden. Die Tänzerinnen und Tänzer versuchten ihre Arbeit weiterzuführen, spielten vor einer begrenzten Anzahl von Zuschauern in Luftschutzkellern – die Theater waren teilweise schon zerstört. Sie wollten das Leben so normal wie möglich weiterführen, und bis zum letzten Moment wollte niemand die Heimat, das Gewohnte und Liebgewonnene, die Eltern und Verwandten, verlassen. Kateryna Andrenko fasst das in dem schlichten Satz zusammen: „Dennoch sind der Tanz und das Schaffen ein sicherer Hafen für mich.“ Im Ausland gab es einige kurzfristige Stellenangebote; das schien für einen Moment die Rettung zu sein.

Ensemble des Hamburger Kammerballetts mit Lin Miao (Viola), Asiia Garipova (Violine), Benas Gocentas (Violine). Foto: Dennis Mundkowski

Ensemble des Hamburger Kammerballetts mit Lin Miao (Viola), Asiia Garipova (Violine), Benas Gocentas (Violine). Foto: Dennis Mundkowski

Das Hamburger Kammerballett, das sich selber als eine „Tanzcompagnie für professionelle Tänzer*innen mit einer klassischen Ausrichtung“ versteht, war eine gute Anlaufstelle. Festverträge kann die junge Einrichtung derzeit noch nicht anbieten – dazu reichen die Finanzen derzeit nicht. Aber die regelmäßigen kleinen Zahlungen reichen, um den sieben Mitgliedern des Ensembles ein geregeltes Leben zu ermöglichen. Das wird nicht zuletzt durch Spenden und Sponsoringgaben einzelner Hamburger möglich – so wohnen die Tänzer und Tänzerinnen derzeit in einer gesponserten Wohnung in St. Georg.

Für Revazov und Rohlfs ist die Festanstellung der Mitglieder des Balletts ein vorrangiges Ziel. Die Unterstützung durch öffentliche Stellen ist aber noch zu gering. Natürlich träumen die beiden auch von einer eigenen Halle, möglichst mit Bühne, und einem eigenen Pobenort. Derzeit sind sie Gäste im „Ballettzentrum Hamburg – John Neumeier“ und haben dort einen sicheren und künstlerisch inspirierten Ort zur Verfügung.

Das Besondere am Kammerballett ist seine sozial ausgerichtete Kunst- und Kulturarbeit. Das Hamburger Kammerballett ist nur im Moment ein ukrainisch geprägtes Ballett. Wie es sich auf lange Sicht weiterentwickeln wird, ist offen. Es soll aber, so Rohlfs, immer ein „sozialer Ort“, „ein Ort für Geflüchtete“, ein Integrationsort bleiben.

Gasttänzer Oleksii Potiomkin mit Kateryna Andrenko. Foto: Dennis Mundkowski

Gasttänzer Oleksii Potiomkin mit Kateryna Andrenko. Foto: Dennis Mundkowski

Mitte April ist die Compagnie mit ihrer ersten Produktion „White Noise“ vor die Öffentlichkeit getreten. Die vier Vorstellungen, die im Theater „First Stage“ stattfanden, waren fast vollständig ausverkauft, das intime Theater ein genialer Ort für ein Kammerballett. Zwei brandneue Werke kamen zur Aufführung: Der Britten-Tanz sei, so beschreibt es Revazov, „ein expressionistisches Werk, das sich der klassischen Balletttechnik bedient. So erschafft es eine Projektion aus romantischen, komischen und karikaturistischen und sinnlichen Energien. Diese sind wie verschiedene Bilder in einem Fotoalbum, nur in bewegter und tänzerischer Form“. Das zweite Stück „White Noise“ ist inspiriert durch das physikalische Phänomen des „Weißen Rauschens“, das für Menschen im Allgemeinen und für Künstler*innen im Besonderen eine außergewöhnliche Eigenschaft hat, Traumata zu überwinden und inneren Frieden zu finden. Für die Zuschauer und wohl auch für die Tänzer und Tänzerinnen schienen die Aufführungen in jedem Fall einen friedlichen Moment zu haben, einen Moment des tänzerisch-bewegten Innehaltens, einen Moment, in dem zumindest an einem Ort auf der Welt Friede herrschte.

Ralf-Thomas Lindner

 

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