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Hintergrund

Wie in einem Flow

Ein neues Buch über „Das chorische Prinzip“
Harald Volker Sommer im Gespräch mit Barbara Haack

Harald Volker Sommer ist Schauspieler, Theaterpädagoge, Regisseur und Schauspielpädagoge. Er lehrt und inszeniert seit vielen Jahren an zahlreichen Hochschulen und Bildungsinstitutionen in Deutschland, Österreich und Italien. Sein soeben erschienenes Buch „Das chorische Prinzip“ ist ein „Arbeitsbuch für Theater, Pädagogik und Lehre“. Sommer zeigt hier Wege auf, wie es gelingen kann, Kollektive in einen „kreativen Flow“ zu führen. Neben theoretischen Texten enthält das Buch zahlreiche praktische Übungsvorschläge und Arbeitsblätter. Für „Oper & Tanz“ sprach Barbara Haack mit ihm über das „Chorische Prinzip“.

Oper & Tanz: Ihr Buch, das der Anlass ist für unser Gespräch, heißt „Das chorische Prinzip“. Was genau meinen Sie damit?

Harald Volker Sommer: Ich habe schon lange nach einem grundlegenden Prinzip gesucht, das darüber hinausgeht, singende oder sprechende Chöre synchron arbeiten zu lassen. Wie kann ein Kollektiv im theatralischen Zusammenhang kreativ werden? Wie kann sich eine Gruppe als Gruppe ohne Leitung inspirieren? Für Opernchöre ist es wichtig, wie sich eine Gruppe auf der Bühne selbst organisiert und wie sie daraus eine Kraft schöpft und etwas macht, was man als Einzelner nicht schafft. Mal ist man solistisch und tritt hervor. Dann kann man sich auch wieder zurückziehen in die Gruppe und als Einzelner verschwinden.

O&T: Beim Chor in der Oper geht es aber nicht nur oder nicht in erster Linie um Selbstorganisation. Es sagt vielmehr jemand, wie die Sänger*innen zu singen haben, nämlich der Chordirektor oder der Dirigent, oder wie sie zu spielen haben, nämlich der Regisseur.

Für „Oper & Tanz“ sprach Barbara Haack mit ihm über das „Chorische Prinzip“.

Für „Oper & Tanz“ sprach Barbara Haack mit ihm über das „Chorische Prinzip“.

Sommer: Der Chorleiter erarbeitet lange voraus die Musikstücke. Dann kommt zum Beispiel die Dirigentin und sagt, sie möchte es doch ein bisschen anders haben. Auf der Szene ist es noch mal anders, der Regisseur will ein Drittes. Der Chor kann dann selbstständig werden, wenn Regisseure es verstehen, Settings zu schaffen, in denen Gruppen, auch wenn der Regisseur oder die Regisseurin nicht mehr da ist, selbstverantwortlich agieren. Das spüre ich auf der Bühne: dass dieser Chor, ebenso wie ein Solist, der es auch jedes Mal ein bisschen anders macht, aus seiner Kreativität schöpft und eigene Entscheidungen fällt.

Der Chor ist ein Kollektiv von Solisten. Sie sind ja auch in den allermeisten Fällen als Solisten ausgebildet. Es gibt zwar mittlerweile an einigen Hochschulen Studiengänge für Opernchor beziehungsweise Ensemblegesang, aber viele Sänger und Sängerinnen arbeiten ohne eine solche spezielle Ausbildung in einem Opernchor. Von der Regie einerseits als Individuen ernstgenommen, andererseits als Kollektiv angesprochen zu werden, das ist die Herausforderung für beide Seiten.

O&T: Sie untersuchen, wie eine Gruppe sich selbst organisiert: Wie kann das gut funktionieren?

Sommer: Ein Beispiel: Bei den Vögeln nennt sich das „flocking“. Der einzelne Vogel orientiert sich an vier oder fünf anderen Vögeln um sich herum und achtet darauf, dass er in etwa in der Mitte ist. Und da das jeder Vogel macht, hängen sie in einem unsichtbaren Netz zusammen. In Gruppen kann man das durch Aufmerksamkeitsübungen trainieren, so dass die Aufmerksamkeit eines/einer jeden immer beim Nachbarn ist und die Gruppe sich über körperliche Bewegung im Raum wie in einem Schwarm bewegt. Diese Gruppe bewegt sich dann wie in einem Flow auf der Bühne, und keiner weiß, nach welcher verborgenen Struktur das passiert.

O&T: Wenn Sie vom „flocking“ sprechen, geht es um eine Bewegung aller in die gleiche Richtung. Die Chorsängerinnen und -sänger sind oft aber ganz unterschiedlich und individuell auf der Bühne unterwegs. Funktioniert dieses System dann trotzdem?

Sommer: Ja, es funktioniert. Ich nehme zum Beispiel die Soprangruppe heraus, und die Sopranistinnen, egal, wo sie auf der Bühne stehen, wissen immer, auch wenn sie die Augen schließen, wo alle anderen stehen. Und auf einmal bewegen sich 14 Personen auf der Bühne und kein Mensch weiß, wie sie das steuern. Dann entstehen Autarkie und sehr viel Selbstbewusstsein. Das muss man eine Zeit lang üben, aber solche Chöre haben dann auch eine große darstellerische Qualität.

O&T: Ein Kapitel in Ihrem Buch heißt „Dos und Don’ts mit dem Chor“. Was kann ein Regisseur falsch machen?

Sommer: Zum Beispiel die anonyme Ansprache: Die führt dazu, dass sich der Einzelne auf der Bühne nicht angesprochen fühlt. Dann entsteht eine Leerstelle. Ein Chorleiter hat mir mal erzählt, dass ein Regisseur Nummern wie bei Marathonläufen vergeben hat. Der Chor hat dann aus Protest einfach die Nummern vertauscht. Da ging plötzlich gar nichts mehr.

O&T: Sie stellen in Ihrem Buch auch die Frage, warum Regisseure und Regisseurinnen oft große Lust und viel Fantasie haben, mit Solist*innen zu arbeiten, aber keine Ideen, wie sie mit Gruppen arbeiten sollen. Hat das auch damit zu tun, dass diese Chöre nicht geschult sind, oder hat das mit den Regisseuren zu tun – oder mit beidem?

Sommer: Von den Chorsänger*innen am Theater wird sehr viel verlangt. Die Regisseure haben oft Respekt, weil sie die Menschen nicht kennen. Dann bräuchte es eine Zeit, um miteinander zu kommunizieren und herauszufinden: Was kennt ihr schon, welche Erfahrungen habt ihr? Es gibt Regisseure, die es schaffen, ihre Sprache sofort für die Gruppe umzuformulieren. Es ist ein Unterschied, ob ich mit Solisten spreche, denen zwei, drei Sachen sage, oder mit einem Kollektiv. Wie hört ein Kollektiv zu? Manche Regisseure springen auf die Bühne und arbeiten mit dem Chor. Andere arbeiten von unten, dann entsteht kein Kontakt. Eigentlich müsste ich zum Chormitglied werden oder zum Chorführer, um diese Lust zu vermitteln.

O&T: Gibt es andere oder herausragende Dinge, von denen Sie sagen würden: Das sollte man auf keinen Fall machen als jemand, der mit einem Chor arbeitet?

Sommer: Was oft passiert, ist, dass man als Regisseur mit den Leuten sehr viel arbeitet, die hochmotiviert nach vorne drängen, und denen Extraaufgaben gibt und die anderen dann mitlaufen. Da sage ich als Theater- und Schauspielpädagoge: Mich interessieren alle. Wie kann man sie motivieren? Wie kann man sie dazu animieren, in diesem Schwarm mitzugehen?

O&T: Ob und wie ein Chor funktioniert, hat auch mit der sozialen Situation innerhalb der Gruppe zu tun. Verstehen sie sich gut, fühlen sie sich auch zwischenmenschlich als Kollektiv? Arbeiten Sie an solchen Themen, an Konflikten oder an Dingen, die atmosphärisch nicht stimmen?

Sommer: Im theaterpädagogischen Bereich tritt dieses Menschliche ganz stark in den Vordergrund. Im professionellen Bereich ist dafür einfach keine Zeit. Als externer Regisseur kennt man die sozialen Probleme des Chores nicht, man kennt auch die Konflikte nicht, man kennt die oft jahrelang angesammelten Konflikte im Theater nicht. Der Chor trägt seine Konflikte aber mit hoch auf die Bühne. Solche Dinge kann man in einer Fortbildung oder einem Workshop jenseits der täglichen Theaterpraxis, jenseits der Probe aufarbeiten. Die können sich nicht in der Arbeit ausgleichen. Das ist auch nicht sinnvoll.

O&T: Was würden Sie einem Chor mitgeben? Was können die Chorsänger*innen von sich aus tun oder erarbeiten, um die Kreativität zu steigern, sich einzulassen und mitzugehen?

Sommer: Ich glaube, dass dem einzelnen Chorsänger, der Chorsängerin zu vermitteln ist, dass es eine Freude ist, in Resonanz mit anderen Menschen zu gehen. Chorsänger*innen machen das ja täglich über das Singen. Für den Opernchor ist es genauso wichtig, die Lust, die man beim Singen hat, auch in die Darstellung zu geben, sich zu zeigen und den Mut zu haben, sich nach vorne zu wagen. Dann spürt man, dass der Chor aus Einzelnen besteht. Manchmal ist es ja anstrengend, immer mit vielen Menschen auf engem Raum zu sein. Das kann Stress auslösen. Aber man kann auch Genuss dabei empfinden, in der Gruppe zu sein. Das schließt wieder an das chorische Prinzip an: Da geht es um den Genuss, eine Gruppe, ein Kollektiv, Teil von etwas Größerem zu sein und trotzdem ein Individuum zu bleiben.

 

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