Hintergrund
Phantasie und Groteske
Nikolai Gogol und die Musik
Am 22. März 2022 gab der Sprecher des Tschechischen Nationaltheaters Prag bekannt, wegen der russischen Invasion in die Ukraine ein Werk des Komponisten Pjotr Tschaikowsky aus dem Programm streichen zu müssen – die ursprünglich geplante Oper „Tscherewitschki“ – auf Deutsch: „Pantöffelchen“. Es handle sich um keinen Boykott russischer Kultur, hieß es in der Begründung – nur wolle man wegen des historischen Kontextes „eine Erzählung über das große russische Reich nicht unterstützen“. So lautete die Erklärung der Theaterleitung. Mag es noch verständlich sein, einen sinfonischen Reißer wie Tschaikowskys vaterländisch-martialische „Ouvertüre 1812“ momentan zu meiden, dann ist doch die Streichung seiner Weihnachtsoper „Pantöffelchen“ absurd, weil hier zwar ein karikiertes Großrussland erscheint, das Stück aber ansonsten einen einzigen Hymnus auf das ukrainische Dorfleben, seine Volksbräuche und Lieder darstellt.
Der Stoff entstammt der Erzählung „Die Nacht vor Weihnachten“, mit der Nikolai Gogol den zweiten Teil seiner Novellensammlung „Abende auf dem Weiler zu Dikanka“ einleitet. Der Dichter vermittelt uns hier das suggestive Bild einer ukrainischen Dezembernacht. Seine bizarre Weihnachtsmär erfreut sich in Russland großer Popularität. Es gibt Cartoons davon und einen Film von 1961.
Mit den tief im ukrainischen Volksleben verwurzelten „Abenden auf dem Weiler bei Dikanka“ erringt der junge russische Autor erste Lorbeeren in den literarischen Kreisen Sankt Petersburgs. Doch ist der Schöpfer dieser farbigen Welt, auch wenn er in russischer Sprache schreibt, wirklich ein russischer Autor? Der Dichter des „Revisor“ und der „Toten Seelen“ wird am 20. März 1809 unter dem Namen Nikolai Janowski in Bolschije Sorotschinzy als Sohn eines ukrainischen Gutsbesitzerpaares im Kreis Mirgorod, Gouvernement Poltawa, geboren, – mithin in der Zentralukraine, die zum russischen Kaiserreich gehört. Der Oper „Die Nacht vor Weihnachten“ von Nikolai Rimski-Korsakow wird bei uns eine Renaissance zuteil: Im Dezember 2021 – drei Monate vor Kriegsausbruch – bringt die Oper Frankfurt eine Aufführung heraus, die zur Inszenierung des Jahres 2022 gekürt wird. Berlin folgt am 23. Dezember mit halbszenischer Darbietung in der Philharmonie. Man befindet sich also in der Gogol-trächtigen Situation, in Prag eine Tschaikowsky-Oper abzusetzen und in Frankfurt und Berlin ein Rimski-Korsakow-Stück über dasselbe Sujet zu feiern.
Die nationalrussischen Komponisten – genannt die „Mächtigen Fünf“ – entwickeln ein besonderes Faible für Gogols ländliche Szenarien. Modest Mussorgski vertont den „Jahrmarkt von Sorotschinzy“, hinterlässt ihn jedoch als Fragment, ebenso wie die Gogolkomödie „Die Heirat“. Beide Stücke bezeugen Mussorgskis Sympathie für die skurrile Seite des Dichters. Gegenüber dessen Sarkasmus setzt Rimski-Korsakow auf das Märchenelement. In der Oper „Die Mainacht“ widmet er sich den Undinen und anderen Naturwesen. In seiner „Chronik meines musikalischen Lebens“ schildert er seine frühe Liebe zur Gogolschen Sagenwelt und den konsequenten Weg von der „Mainacht“ zur „Weihnacht“: „Ich hatte es auf verschiedene Motive der Gogolschen Novelle abgesehen.“
2018 stand „Die Nase“ an der Komischen Oper Berlin auf dem Spielplan, hier mit Günter Papendell und Ensemblemitgliedern der Komischen Oper. Foto: Iko Freese/drama-berlin.de
Gegenüber Tschaikowskys melodisch überquellender, aber handlungsmäßig etwas steifer Vertonung rückt die Rimskische „Vorweihnacht“ dem Gogolschen Original näher. Sie intoniert die vom Dichter geschilderten sogenannten „Koljada“-Gesänge, mit denen Burschen und Mädchen durchs Dorf ziehen und Weihnachtsgaben erbitten. Mit ein paar Nebendreiklängen entwirft der Komponist das Bild einer kalten Dezembernacht mit Vollmond hinter gleitenden Wolken, lässt Hexe und Teufel im Duett plärren und die kauzigen Typen des Ortes in ukrainischem Volkston durch das Schneetreiben irren. Der Spottchor der Dorfschönen über die Liebesnöte des Schmieds Wakula ist eine hörbare Reminiszenz an den Spottchor aus Webers „Freischütz“.
Rimski-Korsakows fröhliche Weihnachtsrevue birgt einen tieferen Kern. Die Akzentuierung der von Gogol angedeuteten mythischen Elemente entspricht der Grundidee des Komponisten von der Mission des Künstlers als eines „Vermittlers zwischen sinnlicher und übersinnlicher Welt“. Sie kündet ferner von der Kraft einzelner Typen aus dem Volke, „hilfreich ins kosmische Geschehen einzugreifen“: Beispiele hierfür liefern der Bursche Lewko in der „Mainacht“ und der Schmied Wakula in der „Nacht vor Weihnachten“. Man kann diese schlichten Helden, Nixenerwecker und Teufelsbändiger als ukrainische Verwandte von Wagners Siegfried und Parsifal interpretieren oder als die Ahnen heutiger Filmhelden aus entfernten Galaxien.
Doch Gogol hat noch eine andere Seite. Sein oft gerühmter Realismus äußert sich vor allem in den „Petersburger Novellen“ als eine scharfe, von ätzender Satire geprägte Darstellung sozialer Missstände im zaristischen Russland. Stellt man diese Welt der kleinrussischen gegenüber, so ergibt sich, dass Gogol seiner Heimat phantastisch-idyllische Märchenzüge andichtet, während er die russische Großstadt ungeschminkt in ihren Widersprüchen darstellt. Diese Zweiteilung einer Aufwertung ukrainischen Lebens auf Kosten russischer Misere trägt ihm gelegentlich von beiden Seiten den Vorwurf des Verräters ein.
Es ist bezeichnend für den Paradigmenwechsel in der Musikgeschichte, dass die Komponisten des 19. Jahrhunderts vorwiegend auf die märchenhaft-phantastische Seite der Gogolschen Dichtung setzen, während die Vertreter der Moderne den realistischen und satirischen Aspekt hervorheben. Von der heilen und zugleich übersinnlichen Welt des Volkslebens gleitet Gogol in die unsauberen und hässlichen Machenschaften einer vom Egoismus bestimmten Gesellschaft. Ungewöhnliches, ja Absurdes ereignet sich in den „Petersburger Erzählungen“ genug, sei es im „Newski-Prospekt“, dem „Mantel“, dem „Porträt“ oder der „Nase“. Das phantastische Element ist auch hier anwesend, aber es verbindet sich aufs Engste mit dem Grotesken. Der Newski-Prospekt enthüllt sich als Ort trugvollen Scheins, der die Dinge nachts in „falsches Licht“ taucht. Auf nächtlicher Brücke spukt der armselige Schreiberling Bashmatschkin als Untoter herum, nachdem man ihm seinen geliebten Mantel geraubt hat. Der Kollegienassessor Kowaljow hingegen findet sich eines Morgens vor dem Spiegel ohne Nase wieder. Triviale Figuren geraten in absurde Situationen und bewegen sich in surrealen Räumen: idealer Stoff für die Moderne, für die Verfremdung der traditionellen Opernform und ihre Verwandlung in das Musiktheater des 20. Jahrhunderts. Es ist der absurde Inhalt bei realistischer Darstellung, der den 21-jährigen Dmitri Schostakowitsch an Gogols Novelle „Die Nase“ begeistert und zu seiner ersten Oper inspiriert. Er findet sie stärker als die anderen Gogol-Erzählungen, voll von interessanten szenischen Vorgängen, und ihre Sprache klarer und ausdrucksvoller. Seine Oper „Nos“ lebt von der Verzerrung des herkömmlichen Opernstils. Es gibt Introduktionen, Arien, Ensembles und Chorszenen, aber diese Formen werden unterwandert durch dadaistische Elemente. So, wie der Gogolsche Surrealismus den Bereich des Anekdotischen verlässt und zur sozialkritischen Parabel aufsteigt, verdichtet sich Schostakowitschs Opernsatire zum tönenden Karussell menschlicher Irrungen und Wirrungen: eine „tödliche Satire auf menschliche Niedrigkeit“, wie es der Musikkritiker Iwan Sollertinski formuliert.
Die beginnende Ära des Stalinismus duldet immer weniger die überspitzten Formen der Groteske und Politsatire. Nach ihrer heiß diskutierten Uraufführung 1930 wird die Oper auf politischen Druck nach 16 Vorstellungen abgesetzt; man vermisst den positiven Helden, rügt den Einfluss westlicher Neutönerei und den üblichen Formalismus. Nicht die elenden Vertreter der zaristischen Beamtenschaft, sondern die reinen Toren und Volkshelden der ukrainischen Dikanka hätte der junge Klangstürmer wählen und in die naive Opernsprache eines Rimski-Korsakow kleiden sollen: statt der „Nase“ die „Mainacht“. Doch Schostakowitsch bleibt der Welt Gogols auf höchsteigene Weise treu.
Die Erwähnung einzelner Opern, deren Stil untereinander stark differiert, ja sogar gegensätzlich ausfällt, zeigt die Vielfalt des Einflusses, den Gogol auf die russische Musik ausübt. Einen Spezialfall stellt sein Roman aus heldischer Vorzeit „Taras Bulba“ dar, weil er die Kardinalfrage berührt, ob die dort verherrlichten Kosaken nun Ukrainer oder Russen seien. Angesichts heutiger Feindschaft ziert das kämpferische Reitervolk der Steppe den Stolz beider Nationen.
Was die Musik betrifft, so erfährt „Taras Bulba“ eine Reihe von Vertonungen, zu denen auch die Oscar-nominierte Musik von Franz Waxman aus dem amerikanischen Kolossalfilm mit Yul Brunner und Tony Curtis von 1962 gehört. Leos˘ Janáček widmet dem Kosakenepos eine dramatische, dreisätzige Orchesterrhapsodie, die thematische Verwandtschaft zu seiner patriotischen „Blanik“-Ballade aufweist.
Doch wird dem „Taras Bulba“ bereits 1891 das Privileg einer Nationaloper zuteil: durch den ukrainischen Komponisten und Rimski-Korsakow-Schüler Mykola Lyssenko. Der aus altem Erbadel stammende Lyssenko bildet ein Paradebeispiel für das Erwachen ukrainischer Musikkultur im 19. Jahrhundert. Wie sein Lehrer Rimski-Korsakow vertont er Gogols Erzählungen „Die Mainacht“ und „Die Nacht vor Weihnachten“. „Taras Bulba“ wird erst 1924 in Charkow uraufgeführt. Allmählich erringt sich das Werk den Status einer ukrainischen Volksoper; 1987 präsentiert es sich in einem Gastspiel der Kiewer Oper dem Publikum der Staatsoper Berlin.
Gogols Vorhaben, eine umfangreiche Geschichte Kleinrusslands zu schreiben, bricht sich an seinem Überschwang und seiner ungebremsten Phantasie, die nüchterne Fakten mit prangenden Bildern eindeckt. Dafür ist wiederum sein Einfluss auf die Kunst zweier Jahrhunderte sowie zweier nationaler Kulturen beträchtlich. Die Literatur profitiert von der hintergründigen Schärfe seiner Wahrnehmung ebenso wie die Musik von der Farbigkeit seiner volksnahen Milieuschilderungen. Die eigentlich gegensätzlichen Regionen der Phantastik und der Realistik versöhnen sich durch die plastische Darstellung einer öden Welt voll trauriger Gestalten. Der Gogolsche Kosmos mit seinem Griff ins bunte Menschenleben, seinen schrillen Misstönen, nachtschwarzen Phantasmagorien und öden Tagesereignissen bietet demnach gerade der Musik und dem Musiktheater eine Vielfalt an Anregung. Verdanken ihm Mussorgski und Rimski-Korsakow die Impressionen des Volkstrubels und der Naturgeister, so findet die Moderne ihre schrägen bis raffiniert ausgefeilten Klänge in den verqueren Situationen, in denen Gogolsche Figuren durch den „jammervollen Schlamm“ des Erdendaseins waten müssen.
Den Bogen zurück zu Mussorgski schlägt die „Opera misteria“ der russischen Komponistin Lera Auerbach; sie durchleuchtet hintergründig wie folkloristisch die letzten Stunden des Dichters, der in religiösem Wahn durch fanatisches Fasten mit 42 Jahren sein armseliges Leben beendet. Auerbachs Oper „Gogol“, 2011 im Theater an der Wien uraufgeführt, gewährt mit russischer Melancholie Einblicke in die gequälte, von Schuldgefühlen und Dämonen heimgesuchte Seele des Autors.
Nur die Musik vermag es, die Divergenzen seines russischen Ukrainertums zu einer übernationalen „Sinfonie“ zu verschmelzen. Denn die beiden Seelen, von denen Gogol wie von Zwillingen spricht – Russland und die Ukraine – wollen sich auf dem Gebiet der Sprache nicht mehr zu poetischer Einheit fügen. Sie sind mit dem Titel des Gogolschen Hauptwerkes buchstäblich „tote Seelen“ geworden. Und was ist aus der stürmisch-emphatischen Schlussvision des Romans geworden, die das Gefährt des Seelenkäufers Tschitschikow einst zur Metapher eines neuen kühnen Aufbruchs in die Weltherrschaft machte? Vor diesem Bild kann man sich wohl nur mit Grausen abwenden:
„Wohin der Fahrt, mein Russland? Antworte mir! – Du antwortest nicht. – Silbern klingelt das Glöcklein; laut knattert die Luft und wird vom Sturm in Fetzen gerissen; die Dinge der Erde fliegen vorbei; bang ducken sich zur Seite und räumen die Straße vor dir die andern Völker der Welt.“
Wolfgang Molkow |