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Das Erzählballett hat eine Zukunft
Jörg Mannes und „Der Sturm“ in München · Von
Malve Gradinger Was sieht das breite Publikum am liebsten? Handlungsballette.
Und warum? Weil eine Geschichte erzählt wird. Weil sich in
der ausdrucksvollen Bewegung lebensgültige Wahrheiten, archetypische
Situationen und Gefühle widerspiegeln und nicht nur den Form-Ästheten,
nicht nur den Schritt-Spezialisten, sondern jeden Betrachter erreichen.
In den 60er-Jahren verhalfen vor allem die Briten Frederick Ashton,
John Cranko und Kenneth MacMillan dem damals schon totgesagten
narrativen Ballett zu einer großartigen Renaissance, die
jedoch in einer erklärungsskeptischen Postmoderne nach und
nach wieder verblasste. Die besten Ballette von Cranko, Ashton
und MacMillan blieben neben den Petipa-Balletten des 19. Jahrhunderts
zwar die Eckpfeiler der Repertoires. Aber angesichts überholter,
vehement aufbrechender alter Ordnungen zerschlugen William Forsythe
und in seinem Kielwasser die gesamte nachgewachsene Choreografen-Generation
in einem Zuge das neoklassische Vokabular und die geschlossene
Ballett-Handlung. Selbst ein John Neumeier, der zunächst noch
die Petipa-Klassiker nur leicht veränderte, wie das auf Ludwig
II. umgewendete „Illusionen wie Schwanensee“ oder sein
zum Ballerinen-Traum in Degas-Atmosphäre verzauberter „Nussknacker“ begann
in den 80er-Jahren, literarische Vorlagen mit anderen „Texten“ zu
verschneiden. Geradliniges Erzählen war démodé,
assoziatives Erzählen angesagt.
Der Sturm
Nur ganz wenige in der jüngeren Choreografen-Garde nehmen
noch die Mühen eines abendfüllenden Erzähl-Balletts
auf sich. Der gebürtige Österreicher Jörg Mannes,
der seit Saisonbeginn 2006/07 das Ballettensemble an der Staatsoper
Hannover leitet, gehört dazu. Im vergangenen Dezember kreierte
er für das Bayerische Staatsballett Shakespeares letztes Werk „Der
Sturm“ (1613). Allerdings: Wie er zu seinem Stoff findet,
wie er sich ihm nähert, wie er ihn umsetzt, unterscheidet
sich doch wesentlich von früheren choreografischen Vorgehensweisen.
Von der Dramaturgie über das Bühnenbild bis hinein in
die Bewegungssprache ist Mannes spürbar geprägt von den
Veränderungen, das heißt auch von den Möglichkeiten
der Moderne und der Postmoderne – in positiver wie negativer
Hinsicht.
Petipa bekam von Ludwig Minkus und Riccardo Drigo maßgeschneiderte
Ballettmusiken. In der engen Zusammenarbeit mit Tschaikowsky lieferte
Petipa dem Komponisten Angaben über Tempo und Atmosphäre
der Musik, sogar die genaue Anzahl von Takten für eine bestimmte
Tanzfigur. Cranko choreografierte sein „Romeo und Julia“ zu
der bereits existierenden Ballettkomposition von Prokofjew. Für
sein „Onegin“-Ballett ließ er sich vom damaligen
Ballett-Dirigenten der Württembergischen Staatstheater Kurt-Heinz-Stolze
noch eine tanzgerechte Musik aus diversen Tschaikowsky-Musiken
(nichts aus der Oper „Eugen Onegin“) arrangieren. Jörg
Mannes, ganz im aktuellen Trend, geht einen Schritt weiter, „baut“ sich
aus zum großen Teil sinfonischen Musiken verschiedener Komponisten
selbst eine Partitur. Schwerpunkt Bruckner
Die Musik ist für Mannes, wie er erklärt, meistenteils
die ursprüngliche Inspiration, die dann zur Entwicklung eines
Stückes führt. So auch in diesem Falle. In der Zeit seiner
Tanzleitung in Linz von 2004 bis 2006 beschäftigte er sich
intensiv mit dem in der Nähe geborenen Anton Bruckner.
„Ausgangspunkt war Bruckners 4. Sinfonie, weil sie für
mich auf die Geschichte passt. Sie wechselt sehr zwischen Zartheit
und
auch Aggression, was ja eigentlich Grundthema des ,Sturms’ ist.
Zwischen den 1. und 4. Bruckner-Satz sind sieben Nummern der „Sturm“-Suite
von Sibelius eingeschoben. Es geht einfach darum, eine Abwechslung
zu haben und gleichzeitig eine Klammer zu bilden. Deshalb beginnt
der 2. Akt wieder mit dieser „Sturm-Suite. Ihr folgt Tschaikowskys „Sturm“-Ouvertüre.
Den Abschluss bildet Sibelius’ 7. Sinfonie, die in sich auch
einen Sturm komponiert hat. Es ist fast ein Sonaten-Satz, auch übers
ganze Stück hinweg.“
Premieren-Erfolg
So trocken dargelegt klingt das nach Patchwork, funktionierte
aber in der Premiere sehr gut: Im sich steigernden Aufbrausen Bruckners
werden die verräterischen ehemaligen Freunde an Land gespült,
werden neue Mordkomplotte geschmiedet. In Bruckners Innenspannung,
später auch bei Tschaikowsky, liegt Prospero im Gewissenskampf
mit sich selbst. In den lyrischen Passagen entdecken und verlieben
sich Miranda und Ferdinand. Zu den leichten, hüpfig-tänzerischen
Miniaturen der Sibelius-Suite sind Mannes hinreißende Sequenzen
für das komische Duo Trinculo und für Stefano und Caliban
eingefallen. Und Sibelius’ 7. Sinfonie ist ihm in ihrer Besänftigung
ein Spiegel für Prosperos große Versöhnungsszene.
Problematisch war natürlich – vor allem bei Bruckner – die
Tatsache, dass das Staatsorchester Kompromisse eingehen musste
zwischen erbetenen Tanztempi und wünschbarem konzertreifen
Klangbild, wobei das Lärmige wohl doch eher eine persönliche
Vorliebe von Dirigent David Robert Coleman zu sein scheint. Musikdramaturgisch
hatte Mannes jedenfalls sehr klug gedacht. Vielschichtige Story
Und inhaltlich? Shakespeares „Sturm“ bietet keine satten
Stories um verbotene, verwirrte oder kratzbürstige Liebe wie „Romeo
und Julia“, „Sommernachtstraum“ oder „Der
Widerspenstigen Zähmung“. Der sich mit dem „Sturm“ vom
Theater verabschiedende Dramatiker hat da ein gedankentiefes Märchendrama
geschrieben über einen Herrscher, der am Ende auf alle Macht
verzichtet. Ein philosophisches Drama und eben aus diesem Grund
nur selten auf die Ballettbühnen übersetzt. Und wenn,
dann nie mit anhaltendem Erfolg. Wie wollte Mannes diese altersweise
Geschichte choreografisch in den Griff bekommen?
„Alle Seiten kann ich gar nicht zeigen“, hatte Mannes im Interview
vorab zugegeben. „Das kann nicht einmal eine Theaterinszenierung.
Für mich ist interessant, die drei fast streng getrennten
Gruppen pointiert herauszustellen: also Prospero, Ariel, Miranda
und Ferdinand. Dann Antonio, Alonso, Sebastian, die negative Gruppe.
Und Stefano, Trinculo und Caliban als die Lächerlichen, wobei
Caliban nicht nur lächerlich ist … Und natürlich
interessiert mich diese Veränderung von Prospero, weil jeder
von uns in irgendeiner Weise nach Macht strebt, egal in welcher
Form, dass man aber eigentlich – das klingt jetzt so kitschig – Zufriedenheit
oder Konfliktlösung nur durch Machtabgabe gewinnen kann.“ Eindimensional und nüchtern Genau so klar, wie vom Choreografen beschrieben, bekommt man
die Geschichte tatsächlich erzählt. Mannes verfügt über
eine modern aufgebrochene neoklassische Handschrift, die in ihren
frei gefundenen Gesten sehr wohl Inhalte vermitteln kann. Und Prosperos
Versöhnungsangebot lässt sich leicht und plausibel in
einer Umarmung seiner Widersacher darstellen. Aber letztlich ist
Mannes im guten Willen, die verzwickte Handlung verständlich
zu machen, dieselbe allzu eindimensional – vor allem furchtbar
nüchtern geraten. Ein halbes Dutzend dreiseitiger auf- und
abbewegter Säulen können wohl wogende See oder, mit Schriftzeichen
bedeckt, Prosperos Bibliothek evozieren. Aber es entsteht keine
Welt, es webt sich so gar kein Zauber. Selbst der Luftgeist Ariel
verliert sich in blutleeren, selbstzweckhaften Schön-Bewegungen. Überdies
spielt das Stück meist auf völlig nackter, düster
ausgeleuchteter Bühne, die nur von den ersten Parkettreihen
aus erkennen lassen, dass Alen Bottainis Prospero durchaus Ingrimm,
Selbstzweifel und dann Verzeihen zum Ausdruck bringt.
Mit seiner rigorosen Verschlankung der Handlung, in seinem forcierten
Bestreben, den Zuschauer mit nur angedeutetem Dekor selbst imaginieren
zu lassen, hat Mannes den „Sturm“ an den Rand eines
abstrakten Balletts choreografiert. Können heutige Choreografen
aus ihrem Lebens- und Zeitgefühl heraus überhaupt noch
Handlungsballette choreografieren? Ist diese vom Zuschauer immer
noch erhoffte dramatische Form, die absolut und aufregend in eine
fiktionale Welt hineinzieht, nicht mehr möglich? Haben sich
die Parameter für dieses Genre verschoben? Man hat an diesem
respektablen Abend sicherlich viel Tanz von exzellenten Tänzern
gesehen – aber es bleiben einige Fragen offen.
Malve Gradinger
Jörg Mannes
Geb. 1949 in Wien, Ballettschule der Wiener Staatsoper, 1985
Engagement im Ballett der Wiener Staatsoper. 1991 Solist an
der Deutschen
Oper am Rhein/Düsseldorf, dort ab 1994 erste Choreografien.
Gastchoreografien in den USA, Montreal und Moskau. Auszeichnungen
bei internationalen Wettbewerben in Paris, Hamburg/Prix Dom Perignon
und Helsinki. 2001-04 Chefchoreograf am Stadttheater Bremerhaven,
2004-06 am Landestheater Linz, seit 2007 Leiter des Tanzensembles
an der Staatsoper Hannover.
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