So etwas hört man von gestandenen Sängerinnen. Ist es ein Wunder, dass eine Gesangsstudentin dieses Vorbild vor etwa 100 Zuhörern im Hörsaal der Mainzer Uniklinik reproduziert? Erstaunlich ist hingegen, was dann passiert: Oren Brown, Nestor der US-amerikanischen Gesangspädagogik, beginnt mit der jungen Frau zu arbeiten. Er spricht über die Entspannung der Außenmuskulatur, lässt die Studentin Kopf und Schultern lockern und dann den Anfang des Couplets („Mein Herr Marquis“) sprechen – geleiert und nahezu spannungslos. Die Studentin tut sich schwer. „It’s hard to not do a lot”, kommentiert der erfahrene Pädagoge verständnisvoll und lässt den Text stumm sprechen, danach auch die Melodie ohne Worte herunterleiern. Die Überspannung weicht. Jetzt, so Brown, komme es darauf an, Melodie und Artikulation zu kombinieren – „to do two separate things at the same time“. Auf einmal ist nicht nur die Sängerin entkrampft, sondern auch der musikalische Ausdruck, ja die ganze Bühnengestalt wirkt stimmig. Zurückgeblieben Besser als auf diese Weise hätte sich die Intention des Symposiums
kaum veranschaulichen lassen, zu dem der Fachbereich Musik der Johannes-Gutenberg-Universität
und die Lohmann-Stiftung Wiesbaden gemeinsam eingeladen hatten.
„Neue Perspektiven der Gesangskunst“ lautete der Titel
der Veranstaltung; dass nun gerade ein 94-jähriger Nordamerikaner
als Repräsentant jahrzehntelanger und erfolgreicher Verknüpfung
von Kunst, Wissenschaft und Pädagogik geladen wurde, deutet
daraufhin, dass die zu eröffnenden Perspektiven im Prinzip
so neu nicht sind. Die Mainzer Gesangsdozentin Julia Bauer, zuständig
für Konzeption und Organisation der Veranstaltung, hält
die deutsche Gesangspädagogik denn auch im internationalen
Vergleich für zurückgeblieben. Dass Absolventen deutscher
Gesangsklassen inzwischen selbst mit Bestnoten Schwierigkeiten hätten,
im internationalen Vergleich zu bestehen, deute auf einen erheblichen
Reformbedarf in der Ausbildung hin. NachholbedarfUnter den Referenten fanden sich neben Sängern und Gesangspädagogen auch Stimmwissenschaftler, Fachärzte und Logopäden, Musikwissenschaftler und Praktiker des Musikbetriebs. Die Beiträge aus medizinischer, naturwissenschaftlicher und empirischer Sicht bestätigten teilweise sängerische Alltagserfahrungen, teils lenkten sie den Blick auf bisher vernachlässigte Zusammenhänge. Dass Sänger und Logopäden etwa Sängerstimmen durchaus unterschiedlich beschreiben und bewerten, deutet auf einen erheblichen Nachholbedarf an Vergewisserung und Verständigung über stimmliche Prozesse und Vorstellung hin. Dem schwedischen Stimmforscher Johan Sundberg kann man nur darin beipflichten, dass die visuelle Anschauung auf dem Papier oder dem Bildschirm stimmliche Phänomene anschaulicher und besser begreifbar macht. Dass physiologische Untersuchungen gewichtige Indizien für die Stimmgattung zu Tage fördern und dass es in Berlin und Hamburg bereits geglückte Modelle der Zusammenarbeit zwischen Sängern und Phoniatern gegeben hat, gehört mit Sicherheit auch zu den Erkenntnisgewinnen der Tagung. Rock und Pop einbindenClaus Ocker von der Lohmann Stiftung zeigte sich in seinem Schlusswort hoch zufrieden mit Verlauf und Ergebnissen der Tagung. Ocker hatte allerdings vorher im Anschluss an den Vortrag von Jürgen Kesting über die Wandlungen des Stimmideals in den letzten 100 Jahren eine Frage gestellt, die im Lauf der Veranstaltung nicht beantwortet wurde. Dazu, wie mit den Stimmidealen aus Pop, Rockmusik und HipHop umzugehen sei, die den musikalischen Geschmack der aufwachsenden Generation ganz selbstverständlich prägen, sind Erfahrungsaustausch und Konzepte noch dringend erforderlich. Dass es genügend engagierte und kompetente Gesangspädagogen gibt, die den Gesprächsbedarf über die Probleme und Perspektiven ihrer Tätigkeit sehen und auch die notwendige Gesprächsbereitschaft mitbringen, ist vielleicht das wichtigste Ergebnis der Mainzer Veranstaltung.
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