Die gesangstechnischen Neuerungen aber gehen bis in die 50er-Jahre zurück. Schnebel ist Komponist und Theologe, die Worte der Bibel waren ihm stets Quelle musikalischer Reflexion. Unter anderem mit den Kompositionen „Für Stimmen (...missa est)“, „dt 31,6“, „amn“ „:! (madrasha 2)“ oder auch „Glossolalie 61“ trat Schnebel schon in jungen Jahren heraus aus dem Mainstream damaligen Komponierens. Er setzte kühn und radikal auf die Inhaltlichkeit kommunikativer Strukturen und trieb dabei die Gesangstechniken durch Einbeziehung konsonantischer Geräuschstrukturen, collagenartiger Verdichtungen, Mehrsprachigkeit, semantischer Schichtungen und anderem in neue Regionen. Die Zusammenarbeit mit Clytus Gottwald und seiner „Schola Cantorum Stuttgart“ wurde dabei zu einem Glücksfall der Geschichte der musikalischen Moderne. Mit einem Mal war das Moment der Öffnung wieder spürbar, die musikalische Sprache berührte durch konzessionslose Suche nach neuen Ausdrucksmitteln, die in ihrer Konkretheit und Klarheit Stellung bezogen und nicht nur Kennern im inneren Kreis der Avantgarde vorbehalten blieben. Musik, die nachdenktHier arbeitete Schnebel unerschütterlich weiter. Seine Musik denkt vernehmlich nach, sie reibt sich an den tradierten Strukturen ihrer Vermittlung, erhebt Einspruch und lenkt das Ohr hin auf Formen der Wahrnehmung, die bislang in der Musik verstellt oder ausgeschlossen waren. Die Erfahrung der Musik eines John Cage, der ohne Wertung alles Hörbare dem musikalischen Prozess verfügbar machte, mag ihm hierbei nachdrücklich geholfen haben. Gleichwohl adaptierte Schnebel nicht dessen Haltung, sondern beharrte auf der Ebene der Bedeutung, der Stellungnahme über die musikalische Aktion. „Musik wieder zu sich selbst kommen zu lassen, sie sich als eine Sprache, eine Mitteilung, eine Verständigungsbasis zwischen je Einzelnen vorzustellen, damit der Kokon des Vorab-Entschiedenen (bei ihr wie denen, die ihr folgen) Brüche erhält, löchrig, porös, fasrig, eben überhaupt durchlässiger wird – das ist eins der Motive von Schnebels kompositorischen Projekten.“ So hat Ulrich Dibelius diesen Ansatz beschrieben. Noch ein Moment tritt hinzu: Systematik. Schnebel muss sich dabei angesichts seines ganzen eigenen Werks, das die Totalität des Klingens einzufangen sucht, vorkommen wie zum Beispiel Linné angesichts des Tier- und Pflanzenreichs: Über Ober- und Untergruppen bahnt sich der Weg bis zur einzelnen Art, hier bis zum einzelnen Werk. So systematisiert Schnebel und kommt zu den Gattungen: Versuche, Für Stimmen, Projekte, Abfälle (I und II), Modelle, Räume, Radiophonien, Produktionsprozesse, Schulmusik, Re-Visionen, dann Tradition mit den Untergruppen „Alte Musik“, Kammermusik, Orchester, Kammertheater und drei weiteren (Nr. V bis VII), worunter sich (unter VI) auch die „Sinfonie X“ findet. Es geht weiter mit Psychologia, Experimentelles Musiktheater, Speromenti und schließlich Pezzi Sacri. Das räumt auf – oder tut es nur so, weil wir Menschen im Anblick der Unendlichkeit einfach erst einmal ein paar Gruppen bilden, um uns zurechtzufinden? Das machen wir auch manchmal, ohne den Dingen wirklich gerecht zu werden, etwa wenn wir mit dem Blick zum Nachthimmel Sternbilder formieren, deren einzelne Sterne kaum etwas miteinander zu tun haben. Das ist ein ptolemäisches, ein auf die Anschauungsformen des Menschen zentriertes Prinzip. Der Gang der SchöpfungSo erfasste er in Bezug auf die Stimme und auf die Gestik des Körpers im kompositorischen Werk mit geradezu lexikalischer Genauigkeit die ganze Fülle der Möglichkeiten. Experimentelle Arbeiten wie „Körper-Sprache“, „Laut-Gesten-Laute“, „Zeichen-Sprache“ oder der Komplex der „Maulwerke“ decken die Bereiche aller körperlichen Artikulation ab und formen daraus in sich geschlossene Stücke. Die Stellungen des Mundes, der Lippen, des Kehlkopfes, die unterschiedlichen Ausprägungen des Atmens wurden listenmäßig erfasst und in einem Prozess angeordnet. Komponieren dieser Art schuf im Grunde die Basis für weiteres kompositorisches Denken. Schnebel ging gewissermaßen den Gang der Schöpfung nach, er eroberte sich die körperlichen Lautorgane gleichsam ein zweites Mal, um neue Bezüge zwischen ihnen herzustellen. So wächst sein Gesamtwerk bis heute zu einem integralen Ganzen. Die Stücke stehen als Individuen für sich selbst; zugleich ist jedes ein Baustein, der sich zum Komplex der anderen fügt. Freilich gibt es hierbei Ecksteine, tragende Fundamente und auch verspielten Zierrat. Alles aber trägt den Odem des gesamten Schöpfungsprozesses. Dessen beständiges Wachsen ist Indiz für das Gedeihen. Den Begriff der Gottähnlichkeit des künstlerisch Arbeitenden würde Schnebel freilich mit dem ihm eigenen freundlichen Lächeln abtun. Und vielleicht würde er entgegnen: „So weit sind wir noch lange nicht!“ Aber die Tatsache, dass die Menschen durch Schnebels Werk heute anders singen, anders hören, anders begreifen, gibt unmissverständlich Kunde davon, dass ein Schritt in diese Richtung getan wurde. Reinhard Schulz
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